Zadie Smith
Die britische Autorin Zadie Smith beschäftigt sich in "Betrug" mit Fake News und Populismus während des Viktorianischen Zeitalters.
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An historischen Romanen herrscht bekanntlich kein Mangel. Man muss eher von einem diesbezüglich für das Buchpapier provozierten Baumsterben sprechen, das in Buchhandlungen ganze Wände füllt. Wenn die Gegenwart zu unübersichtlich wird, greifen Autorinnen wie Leser gern einmal auf vergangene Zeiten zurück. Die sind im Vergleich zum Heute dank oft ungleich leichter überschaubarer Quellenlage angenehmer zu bewältigen - und falls man einmal mit den Fakten auf dünnes Eis gerät, lässt sich das mit dichterischer Freiheit gern übertünchen. Alles hängt ja sowieso mit allem zusammen.

Zadie Smith (Zähne zeigen) verschlägt es aktuell ins Viktorianische Zeitalter nach London in den 1870er-Jahren. In ihrem vom Verlag gepriesenen "literarischen historischen Roman" Betrug (gibt es auch unliterarische Romane?) untersucht Zadie Smith als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines britischen Vaters einmal mehr zentrale Fragen in Sachen Klasse und Kampf, Rasse und Geschlecht, Arm und Reich, Kolonialismus und Sklaverei, Rassismus und Kapitalismus. Es geht auch darum, auf welchen Lügen und zu welchem moralischen Preis sich eine Nation wie England zum "Weltreich" emporgeschwindelt und -gemordet hat.

Der verlorene Sohn

Im Mittelpunkt der Handlung steht der berühmte, historisch dokumentierte "Tichborne-Fall". Den kann man als frühe Blaupause für heutige Hochstapler-, Fake-News-, Populismus- und Rattenfänger-Erscheinungen nehmen, um zu untersuchen wie etwa ein Lügenbold im 21. Jahrhundert zum US-Präsidenten aufsteigen konnte, obwohl jedem eigentlich der Schwindel klar war. Im Haushalt des eitlen Freundes von Charles Dickens, des heute längst wegen seiner schwülstigen historischen Romane vergessenen britischen Schriftstellers William Harrison Ainsworth (1805 - 1882), verfolgt dessen schottische Cousine Eliza Touchet als Protagonistin und überzeugte Anhängerin des Abolutionismus, der Befreiung der Sklaven, den Prozess um den Betrüger Arthur Orton, einem grobschlächtigen und ungebildeten Fleischhacker aus einem Elendsbezirk Londons. Der gibt sich als reicher Gentleman Roger Tichborne aus. Er behauptet, der seit 1854 auf einer Reise nach Jamaika verschollene und längst totgeglaubte junge Erbe aus reichem Hause zu sein, der nun zurück nach Hause kehrt.

Sozialpädagogischer Anstz

Außer vielleicht Mutter Tichborne und dem ehemaligen Sklaven Andrew Bogle als Hauptzeuge vor Gericht, der den jungen Tichborne offenbar vor seinem Verschwinden kannte, ist jedermann die Lüge klar. Doch die Boulevardpresse bauscht den tumultartigen Prozess zum sozialrevolutionären Kampf Arm gegen Reich und zum großen verschwörungserzählerischem Entertainment auf, dem das Volk nur allzu gern wider besseres Wissen Glauben schenkt.

Zadie Smith montiert den historischen Stoff geschickt in einer Mischung aus sexuell aufgeladenen Tea-Time- und Besäufnisszenen im Heim des Dichters Ainsworth (sowie heute obligaten Betrachtungen zum Thema Schreiben und Literatur), deftigen Gerichtsszenen und Idyllen aus dem Londoner Scherbenviertel. Betrug ist eine wilde Mischung aus Downton Abbey, Oliver Twist und sozialpädagogischem Ansatz. Als völlig unpassender Pflock wird mitten in den Roman auf gut hundert Seiten die auf den Zeugenaussagen Andrew Bogles basierende brutale Geschichte der Sklaverei auf Jamaika gerammt. Ein wenig mehr von den leider nur angedeuteten Ausschweifungen im Dichterhaus hätte Betrug und den Leserinnen gutgetan. (Christian Schachinger, 12.11.2023)

Zadie Smith, Betrug. Aus dem Englischen von Tanja Handels. 524 Seiten/Euro 26, 50. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2023.