Mit Mehrheit und Koalitionsversprechen, aber noch ohne Auftrag: Donald Tusk.
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Die Würfel sind gefallen – und doch auch wieder nicht. Seit knapp einem Monat befindet sich Polen im politischen Wartesaal. Bei der Parlamentswahl am 15. Oktober hatte die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit gut 35 Prozent zwar wieder Platz eins erreicht, die absolute Mehrheit aber klar verloren.

Video: Pro-europäische Opposition in Polen will regieren
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Jubeln konnte hingegen die liberale Opposition rund um Ex-Premier Donald Tusk: Dessen Dreierbündnis bekam im Sejm, dem Unterhaus des Parlaments, 248 von 460 Mandaten, also genug, um die PiS nach zwei Legislaturperioden zu entmachten. Den Auftrag zur Regierungsbildung aber, den versprach Präsident Andrzej Duda dem bisherigen Premier Mateusz Morawiecki – und damit der PiS, aus deren Reihen er selbst stammt, für die aber eben keine Mehrheit in Sicht ist.

Auch wenn das ganz nach einem Patt aussieht: In Polen mangelt es derzeit nicht an politischer Dynamik. Vor allem die Opposition hat bereits lange vor der am Montag anstehenden konstituierenden Sitzung des Sejm versucht, öffentlichkeitswirksam Tatsachen zu schaffen und sich als neue Regierung in Stellung zu bringen.

Signale der Geschlossenheit

So erklärten die liberale Bürgerkoalition (KO) von Donald Tusk, der konservativ-zentristische Dritte Weg und die Linke (Lewica) bereits neun Tage nach der Wahl auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, miteinander eine Koalition anzupeilen. Das Timing war gut gewählt, zumal Präsident Duda kurz darauf seine Konsultationen mit den Parteien startete. Die Botschaft ging also auch direkt an das Staatsoberhaupt, und sie lautete: Egal, wer den Regierungsbildungsauftrag erhält – wir lassen uns nicht auseinanderdividieren.

Beeindruckt hat Duda das freilich nicht. Dass er erklärte, wieder Premier Morawiecki mit der Bildung eines Kabinetts zu betrauen, war keine Überraschung, immerhin ist die PiS ja weiter die stärkste Partei. Dennoch war die Aufregung danach groß – wegen der klaren Sprache der Mandatszahlen, aber auch wegen der enormen Polarisierung im Land.

In ihren acht Regierungsjahren hatte sich die PiS unter ihrem Chef Jarosław Kaczyński ausgerechnet beim Versuch, ihre Macht immer weiter auszubauen, immer mehr isoliert. Kritiker beklagen, das Parlament sei längst kein Ort für Debatten mehr gewesen, sondern nur noch eine Abstimmungsmaschine der PiS-Parteizentrale, die in Nacht-und-Nebel-Aktionen alles niederwalzte, was sich ihr in den Weg stellte. Auch dass die öffentlich-rechtlichen Medien zu Propagandasprachrohren der Regierung umgebaut wurden, vertiefte die Gräben nur noch weiter. Und die Politisierung der Justiz sorgte nicht nur für Debatten in dem Nato- und EU-Land selbst, sondern auch für heftigen Dauerstreit mit Brüssel.

Der Nächste, bitte

Das jüngste Ausrufezeichen setzte die Opposition am Freitag: Mit der Erklärung, man habe sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt, wollte der ehemalige EU-Ratspräsident Tusk der PiS und Duda erneut ihre Grenzen aufzeigen. Sein Optimismus ist begründet: Wenn Morawiecki wie erwartet keine Mehrheit zimmern kann, ernennt laut Verfassung der Sejm den nächsten Kandidaten – vermutlich Tusk selbst.

Und doch ist es nicht nur Selbstbewusstsein, das die Opposition so vorpreschen lässt, sondern auch eine gute Portion Misstrauen gegenüber der PiS. Von Verzögerungstaktik bis zum plumpen Mandatskauf: An Spekulationen, wie die Nationalkonservativen sich letztlich doch noch an die Macht klammern könnten, kommt man dieser Tage in Polen kaum vorbei.

Aber selbst wenn sich derlei Befürchtungen letztlich als grundlos erweisen: Die nächste Regierung wird bis 2025 mit Präsident Duda leben müssen, der die Vorhaben der PiS in aller Regel bereitwillig absegnete und so zum Spitznamen "Kaczyńskis Kugelschreiber" kam. Dudas Veto gegen Gesetze kann der Sejm nur mit Dreifünftelmehrheit überstimmen. Und von der ist Tusk weit entfernt. (Gerald Schubert, 13.11.2023)