Hamas Philosophy for Palestine Cannibal Capitalism
Die linke Denkerin Nancy Fraser spricht am Mittwoch in der Wiener Secession über den Begründer der Arts-and-Crafts-Bewegung, William Morris.
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Als Mitunterzeichnerin des Manifests "Philosophy for Palestine" ist die US-Philosophin Nancy Fraser jüngst in die Kritik geraten: Verhindert das Eintreten für die palästinensische Sache die Empathie mit den israelischen Opfern der beispiellosen Terrorattacke vom 7. Oktober? Israels Eingreifen in Gaza wird von Fraser, Judith Butler und rund 200 anderen Mitunterschreibenden als "sich entfaltender Genozid" bezeichnet. Anstatt Empathie mit den Opfern des Anschlags zu bekunden, wird Israels Rolle als "Aggressor" hervorgehoben und ihm gegenüber ein kulturell-akademischer Boykott heraufbeschworen.

STANDARD: Verstehen Sie Einwände gegen "Philosophy for Palestine" wie denjenigen von Seyla Benhabib? Solcher, die das Leid der Palästinenser sehen und zu beendigen wünschen und dennoch die beispiellose Barbarei des Massakers vom 7. Oktober nicht einfach beiseitewischen?

Fraser: Die türkischstämmige US-Philosophin Seyla Benhabib ist eine langjährige Freundin von mir. Ihre Antwort auf "Philosophy for Palestine" hat mich aus einer Reihe von Gründen enttäuscht. Zunächst halte ich die Art und Weise für sehr unangebracht, in der sie das Manifest wiedergibt. Unser Statement verkleinert in keiner Weise die Brutalität und abstoßende Gewalt des Anschlags, den Hamas-Attentäter am 7. Oktober begangen haben. Benhabib stellt fälschlich fest, wir würden die Hamas unterstützen – als hätte diese Organisation die Vorreiterrolle bei der Befreiung Palästinas inne. Nichts dergleichen wird von uns behauptet.

STANDARD: Wie kann es dann zu solchen Auffassungsunterschieden kommen?

Fraser: Das Ganze erscheint mir als Symptom einer Hysterie. Das erschwert die Führung einer angemessenen Debatte. Statements wie dasjenige von Benhabib zerstören die Hoffnung auf einen sofortigen Waffenstillstand. Nur ein solcher könnte aber den Auftakt bilden zu politischen Verhandlungen. Es muss das Ziel sein, eine Form der Autonomie und politischen Selbstbestimmung für Palästina zu finden. Ob das nun einen selbstständigen Staat meint, der an der Seite Israels existiert, oder eine Zweistaatenlösung in Form einer Föderation: Ich halte eine ganze Reihe von Modellen für denkmöglich. Wir, die Unterzeichner, lehnen kein einziges von ihnen von vornherein ab. Trotzdem bedarf es eines Waffenstillstands und des sehr ernsthaften Willens, einen solchen Prozess unverzüglich in die Wege zu leiten.

STANDARD: Auf welcher Grundlage soll das geschehen?

Fraser: Nicht auf derjenigen der Abrahams Accords Declaration von 2020. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, die die Frage nach der Zukunft Palästinas komplett vernachlässigt, hat eine tickende Zeitbombe hinterlassen. Diese ist soeben mit verheerenden Auswirkungen explodiert. Ich persönlich möchte die Hamas nicht im Geringsten als führende Vertreter der palästinensischen Sache sehen. Mich wird nur niemand fragen.

STANDARD: Wo bleibt in diesen Überlegungen die israelische Perspektive? Die eines Landes, das von lauter Todfeinden umgeben ist?

Fraser: Das palästinensische Anliegen ist von höchster, drängender Bedeutung. Umgekehrt ist es richtig, dass sich die Gründungsgeschichte Israels in vielfacher Weise von der Geschichte anderer Siedlungskolonisatoren unterscheidet. Es wurde von Flüchtlingen gegründet, die der Vernichtung durch den Holocaust entronnen waren. Es ist weiters richtig, dass Juden durch ihre Überlieferung eine außerordentliche enge Beziehung zum Heiligen Land unterhalten. In der Geschichte der jüdischen Diaspora spielt folgender Satz eine ausschlaggebende Rolle: "Nächstes Jahr in Jerusalem!" Ich betone: Das lässt sich zum Beispiel nicht mit den Buren vergleichen, die sich einen Teil Afrikas aneigneten.

STANDARD: Aber damit beglaubigen Sie die berechtigten Ansprüche Israels.

Fraser: Es ist fortlaufend zu Enteignungen durch Israel gekommen, zu einem Verdrängungsprozess. Von ihm betroffen war die Mehrzahl der Bewohner Palästinas. Ich halte, mit Blick auf die aktuelle Situation, den Begriff Apartheid für angemessen.

STANDARD: Weckt er nicht völlig unangebrachte Assoziationen? Israel ist eine Demokratie.

Fraser: Sobald man darüber diskutiert, setzt man sich dem Antisemitismusvorwurf aus. Susan Neiman hat den vor allem in Deutschland wirksam werdenden Mechanismus in der New York Review of Books unlängst recht eindrucksvoll beschrieben. Sie bezeichnet ihn als eine Art von "philosemitischen McCarthyismus". Künstler und Intellektuelle, die Kritik an Israel üben, werden antisemitischer Umtriebe in ähnlicher Weise beschuldigt, wie es in den 1950ern der republikanische Senator McCarthy mit seiner antikommunistischen Hexenjagd – unter dem Vorwand "unamerikanischer Umtriebe" – tat.

STANDARD: Hinkt dieser Vergleich nicht?

Fraser: Die Idee lautet: Die Deutschen müssen, um sich von ihrer Holocaust-Schuld frei zu wissen, die Juden in die Rolle unschuldiger Opfer drängen. Mir geht es um den Mechanismus, der dabei wirksam wird, ein "McCarthy-haftes" Abwürgen jeglicher Debatte. Würde man unser "Philosophy for Palestine"-Manifest im STANDARD zum Wiederabdruck bringen, es würde allen Leserinnen und Lesern schlagartig klar: Der Text enthält nichts Anstößiges. Unter seinen Unterzeichnern finden sich zahlreiche jüdische Menschen. Das Manifest wird durch eine stark verzerrende Linse gelesen. Das wirft ein trauriges Licht auf die Beschaffenheit heutiger Öffentlichkeit.

STANDARD: Stößt Philosophie zu solchen Gelegenheiten nicht an ihre Grenzen? Gerade dann, wenn sie glaubt, Unrecht anprangern zu müssen?

Fraser: Viele palästinensische Stimmen artikulieren sich zum ersten Mal in den USA. Dazu kommt, dass viele jüngere Juden sich von der Politik der israelischen Regierung distanzieren. Es verläuft ein Riss durch die jüdische US-Bevölkerung. Es entstehen neue Allianzen, etwa zwischen Black Lives Matter und palästinensischen Gruppen. Solche Bündnisse gründen auf geteilten Erfahrungen, zum Beispiel durch Polizeigewalt. Aktuell entstehen neue Räume, und eine Vielzahl von Meinungsbekundungen dringt an die Öffentlichkeit. Viele von ihnen werden mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontiert. Mir scheint durch die aufgeheizte Debatte der Beweis erbracht: Etwas am Diskurs steht im Begriff, sich zu verändern.

STANDARD: Nochmals: Woher beziehen Philosophinnen und Philosophen ihr Wissen über Unrecht?

Fraser: Philosophen besitzen keine spezielle "Expertise", wir sprechen als Staatsbürger. Für Intellektuelle ist es nichts Ungewöhnliches, Verantwortungsgefühl zu verspüren. Speziell beeindruckt hat mich dieser Tage ein Protest jüdischer Aktivisten, die plakatierten: "Nicht in unserem Namen!" Das verstehe ich unter einem kraftvollen Eintreten für jüdische Identität. Das hat nichts zu tun mit der aktuellen israelischen Regierungspolitik. Wer glaubt, ein Angriff auf diese Politik ist ein Angriff auf die Juden schlechthin, befindet sich im Irrtum. (Ronald Pohl, 14.11.2023)