Auf den ersten Blick sieht es wie eine ausweglose Situation aus. So ungünstig wie aktuell waren die Vorzeichen für einen Lohnabschluss in der Metallindustrie vermutlich noch nie. Arbeitnehmer und Arbeitgeber ringen um die Abgeltung einer Inflationsrate von beinahe zehn Prozent. Zugleich steckt die Industrie in einer Rezession fest, der Sektor wird heuer schrumpfen. In dieser Situation prallen Angebot und Forderung von Industrie und Gewerkschaft unversöhnlich aufeinander.

Die Gewerkschaft will um 11,6 Prozent höhere Löhne und Gehälter, die Arbeitgeber bieten 2,7 Prozent Lohnerhöhung plus einen dauerhaften Mehrbetrag von 130 Euro, was zusammen noch mal sechs Prozent ergibt. Dazu käme noch eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung von 1.200 Euro, was von der Gewerkschaft nicht akzeptiert wird. Bisher haben die Arbeitgeber den leichten taktischen Vorteil. Sie haben so tief angeboten in der ersten Runde der Verhandlungen, dass sie nun kompromissbereiter dastehen als die Gewerkschaft, deren Forderung sehr nah an der Inflationsrate lag. Nun will die Gewerkschaft mit Streiks den Druck erhöhen.

So verfahren die Situation aussehen mag, wäre es verfrüht, ein Ende der funktionierenden Kultur der Sozialpartnerschaft in Österreich auszurufen, in der Streiks die absolute Ausnahme sind. Die Situation ist ohne Zweifel eine Bewährungsprobe, aber die Chance darauf, dass es nach einer kurzen Streikphase eine für beide Seiten akzeptable Einigung gibt, ist eigentlich recht groß. Das hat mehrere Gründe. Zunächst: Die österreichische Industrie ist gesund. Um einen längerfristigen Konflikt zu riskieren, geht es den Betrieben schlichtweg zu gut.

Es wird mehr hergestellt als früher

Die heimische Industrieproduktion ist im Gegensatz zu jener in Deutschland, wo viel in andere Länder verlagert wurde, stetig gewachsen. Die Industrie erzeugt heute um 20 Prozent mehr Waren als noch vor 15 Jahren. Die Branche hat einen "Schnupfen", weil die Konjunktur aktuell schwächelt, ist aber insgesamt gut aufgestellt, drückt es Ökonom Marcus Scheiblecker vom Forschungsinstitut Wifo aus.

Dafür sorgt auch, dass die heimische Industrie nicht nur von einem Sektor abhängt. Maschinenbau, Fahrzeugerzeugung, Herstellung elektronischer Ausrüstungen sowie diverser Metallerzeugnisse: Alle haben einen ähnlich großen Anteil an der Produktion. In Deutschland ist das anders, dort dominiert der Fahrzeugbau, was aktuell Probleme beim Nachbarn schafft, Stichwort E-Mobilität. Auch aus Sicht der Arbeitnehmer gibt es natürlich gute Gründe, die Wettbewerbsfähigkeit der Branche durch überzogene Forderungen nicht zu gefährden: Die Industrie ist ein guter Arbeitgeber, zahlt im Schnitt deutlich höhere Löhne als Dienstleistungssektor.

Streikposten bei einem Betrieb am Dienstag in Wien.
APA/MAX SLOVENCIK

Dazu kommen noch ganz andere Faktoren, die dafür sorgen könnten, dass am Ende die Streiks kurz bleiben. Die Energiepreise sind gefallen, das gibt Betrieben mehr Spielraum. Die Arbeitgeber in der Industrie haben schließlich selbst ein Interesse daran, das aktuelle System der Lohnverhandlungen beizubehalten, bei dem Inflationsrate plus gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung abgegolten werden. Denn: Die Industrieproduktion entwickelt sich dynamischer als jene in der Gesamtwirtschaft. Die Formel ist also auch aus Sicht der Industriekapitäne vorteilhaft. Wie ein Kompromiss gelingen kann? Nicht über Einmalzahlungen, diese zu akzeptieren haben Gewerkschaften keinen Grund.

Mehr Lohn oder mehr Freizeit?

Eine Möglichkeit wäre aber, einen Teil der verbliebenen Kluft zwischen Angebot und Forderung bei den Lohnverhandlungen der Metaller mit zusätzlicher Freizeit zu schließen. Eine Stunde weniger Wochenarbeitszeit bedeutet umgerechnet ein Prozent mehr Lohn. Die Einigung könnte also aus einer Kombination aus höheren Löhnen und etwas mehr Freizeit bestehen, wobei den Unternehmen eine gewisse Flexibilität eingeräumt werden kann. Wer gut ausgelastet ist, kann höhere Löhne bezahlen, die anderen mehr Freizeit in Form von etwas geringerer Wochenarbeitszeit bieten. Wenn der Aufschwung wie vorhergesagt 2024 kommt, wird es für alle Betriebe interessanter, dass mehr gearbeitet wird. Dann könnten viele zur Mehr-Lohn-Option wechseln. Kurzum: Wenn beide Seiten die Debatte sachlich betrachten und kreativ verhandeln, kann ein tragfähigen Kompromiss gelingen, ohne dass allzu viel Porzellan zerschlagen wird.

In dieser Lesart ebnet der Streik letztlich für beide Seiten den Weg zu einem Kompromiss. Auch intern müssen Arbeitgeber wie Gewerkschaften ja am Ende des Tages argumentieren können, warum sie nicht alle Forderungen durchgebracht haben. Wir haben gekämpft, mehr war nicht zu holen: Nach den Streiks wird diese Aussage noch glaubhafter werden. (András Szigetvari, 15.11.2023)