An Cailín Ciúin – The Quiet Girl Colm Bairéads
Das irische Aschenputtel Cáit kommt ins sommerliche Märchenland.
Neue Visionen Film

Still ist es um An Cailín Ciúin – The Quiet Girl wahrlich nicht geworden. Seit seiner Premiere in der Nachwuchssektion der Berlinale 2022 samt Kristall-Bären-Gewinn ging der irische Film auf eine aufregende Festivalreise. Sie führte ihn im März dieses Jahres bis zu den Oscars. Als erster Beitrag aus Irland überhaupt wurde er in der Kategorie International Feature Film nominiert und stach damit Österreichs Corsage ebenso aus wie Die Frau im Nebel aus Südkorea. Und das im selben Jahr, als AnIrish Goodbye sich den Kurzfilm-Oscar holte und Banshees of Inisherin in den Hauptkategorien neun Nominierungen abstaubte. Ein durch und durch grünes Filmjahr für Irland.

Dabei ist der Debütfilm des Dubliners Colm Bairéad alles andere als ein großes Spektakel. The Quiet Girl ist so simpel wie sein Titel und so ruhig wie seine Titelheldin – im besten Sinn. Basierend auf der Kurzgeschichte Foster von Claire Keegan beginnt er zunächst in einem weiten Feld. Dort versteckt sich das neunjährige Mädchen Cáit.

Rauer Umgangston

In ihrer irischen Familie herrscht Anfang der 1980er nicht nur Armut, sondern auch ein rauer Umgangston zwischen dem englischsprachigen, trinkenden Vater, der distanzierten Mutter und den vielen Geschwistern. Cáit wirkt regelrecht verängstigt. So fragt sie auch nicht nach, als sie nach 13 Filmminuten bei entfernten Verwandten abgeladen wird. Sie soll den Sommer dort verbringen, während ihre Mutter ein weiteres Kind zur Welt bringt.

Das irische Aschenputtel Cáit kommt ins sommerliche Märchenland. Dabei ist die Idylle nur ein ganz normaler Bauernhof im ländlichen Irland. Dort lebt eine gütige Königin, die Cousine ihrer Mutter Eibhlín Cinnsealach mit ihrem Mann Seán. Das kinderlose Paar nimmt das Mädchen nur allzu gern auf.

KinoCheck Indie

An Cailín Ciúin erzählt wie jeder gute Coming-of-Age-Film mit den Augen und Erfahrungen seiner Protagonistin. In der Sonne des langen Sommers und der Wärme ihrer Zieheltern taut das stille Mädchen langsam auf. Dabei setzen Regisseur Bairéad und seine Kamerafrau Kate McCullough die Naturerfahrung ebenso zart ins Bild wie die kleinen Gesten dieser Patchworkfamilie mit der großartigen Hauptdarstellerin Catherine Clinch und den beiden Eltern (Carrie Crowley und Andrew Bennett).

Die drei sprechen irisches Gälisch. Die bedrohte europäische Amtssprache, selbst in der Republik nurmehr von etwa zwei Prozent tagtäglich gesprochen, behauptet sich damit im internationalen Kino. Colm Bairéad und Produzentin Cleona Ní Chrualaoí waren vor dem Filmprojekt Eltern geworden. Mit ihrem stilsicheren Erstling über eine Heranwachsende ist ihnen ein Film mit Klassiker-Qualität gelungen, der zum erfolgreichsten irischsprachigen Film aller Zeiten avancierte. An Cailín Ciúin – The Quiet Girl ist wie ein Gedicht des irischen Poeten W. B. Yeats: Das Wesentliche steht zwischen den Zeilen. (Marian Wilhelm, 14.11.2023)