eine Hand hält eine Glaskugel, in der die umgebende Landschaft in goldenem Sonnenuntergang auf dem Kopf dargestellt wird
Welt steht kopf: Was in der Vergangenheit auch Wissenschafter für wahr hielten, muss heute nicht mehr gelten. Doch die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft ist nicht so einfach zu ziehen.
APA/dpa/Axel Heimken

Was unterscheidet Wissenschaft von Pseudowissenschaft? Michael Gordin geht nicht davon aus, dass es einfache und allgemeingültige Abgrenzungskriterien gibt. Der renommierte Wissenschaftshistoriker von der Princeton University nimmt in seinem neuen Buch Am Rande. Wo Wissenschaft auf Pseudowissenschaft trifft (2022) viele verschiedene Grenzwissenschaften unter die Lupe, systematisiert sie und rekonstruiert ihre jeweilige Geschichte. Der 49-jährige Professor an der Princeton University gilt als einer der weltweit führenden Vertreter seines Fachs und hat zahlreiche Bücher über Wissenschaft in Russland und in der Sowjetunion, über Wissenschaftssprachen, die Geschichte des Periodensystems oder Einstein in Prag verfasst. Zudem schrieb er eine Monografie über Immanuel Velikovsky, der eine grenzwissenschaftliche Katastrophentheorie vertrat.

STANDARD: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren neben vielen anderen Dingen auch mit sogenannten Pseudowissenschaften. Woher kam dieses Interesse?

Gordin: Das geht ziemlich weit zurück und begann im Grunde schon in der Mittelschule. Ich ging damals regelmäßig in die Bibliothek unserer Kleinstadt und las wahllos alle Bücher, die in der Abteilung Naturwissenschaft in den Regalen standen und die ich mit zwölf Jahren einigermaßen verstehen konnte. Da fanden sich Bücher über DNA ebenso wie solche über Ufos oder Bigfoot. Mir war damals klar, dass es einen Unterschied zwischen diesen Themen gibt. Ich wusste aber nicht, woran ich diesen Unterschied genau festmachen kann.

STANDARD: Haben Sie fast 40 Jahre später solche Unterscheidungskriterien gefunden?

Gordin: Nein, im Gegenteil. Je mehr ich mich in späteren Jahren mit dem Problem beschäftigte, desto schwieriger wurde es. Diese Frage, wie man zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Wissensansprüchen unterscheiden kann, ist ja im Grunde schon tausende Jahre alt – so alt wie der Versuch, die Natur zu verstehen. Natürlich wäre es sehr hilfreich, wenn wir eine einfache und saubere Methode hätten, um das aus der Wissenschaft herauszufiltern, was es nicht wert ist, beachtet zu werden.

STANDARD: Ein einflussreicher Vorschlag des Abgrenzungsproblems, der nach wie vor gern zitiert wird, stammt vom Philosophen Karl Popper.

Gordin: Richtig. Seine auf den ersten Blick kontraintuitive Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen und einer nichtwissenschaftlichen Theorie besteht darin, dass erstere falsifizierbar ist – wie Einsteins Relativitätstheorie und die kühne Behauptung, dass eine große Masse wie jene der Sonne den Raum um sie krümmen würde. Das wurde 1919 anlässlich der Sonnenfinsternis bestätigt, was den damals 17-jährigen Popper nachhaltig beeindruckt hat. Für die Psychoanalyse oder den Marxismus würde diese Widerlegbarkeit hingegen nicht gelten. In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftsphilosophen Poppers Falsifikationismus aber selbst quasi falsifiziert.

Michael Gordin
Michael Gordin: "Ich verwende den Begriff Pseudowissenschaften nicht so gerne, weil er von Vertretern der Wissenschaft oft als Kampfbegriff eingesetzt wird, um andere Leute schlecht dastehen zu lassen."
Sameer Khan

STANDARD: Was sind die wichtigsten Kritikpunkte?

Gordin: Aus meiner Sicht gibt es vor allem zwei Einwände: Erstens ist es im Detail schwer zu sagen, ob die Widerlegung einer Theorie tatsächlich gelungen ist. Nehmen wir an, Anton Zeilinger macht ein Experiment; sie wollen es wiederholen und erhalten ein anderes Ergebnis. Das kann aber ganz viele verschiedene Gründe haben. Grundsätzlich ist eine Theorie zudem oft nicht durch Einzelbeobachtungen zu widerlegen, was in der Wissenschaftsphilosophie als sogenannte Duhem-Quine-These bekannt ist. Zweitens behaupten mittlerweile auch die Kreationisten oder die Parapsychologen, dass ihre Theorien falsifizierbare Behauptungen aufstellen – weil auch die Kreationisten inzwischen Popper gelesen haben. Umgekehrt sind die Evolutionstheorie oder die kosmologische Theorie des Big Bang schwer in falsifizierbare Behauptungen zu bringen.

STANDARD: Warum wird Popper dennoch bis heute gerne als Autorität im Abgrenzungsproblem bemüht?

Gordin: Das hat damit zu tun, dass seine Theorie zumindest im englischsprachigen Raum Eingang in Schulbücher und Einführungsbücher in Biologie gefunden hat. Das geht wiederum darauf zurück, dass seine Theorie Anfang der 1980er-Jahre vom Obersten Gerichtshof der USA bei dessen Entscheidung, warum Kreationismus in den Schulbüchern nichts verloren hat, zitiert wurde. Während Poppers Abgrenzungskriterium also in den 1980er- und 1990er-Jahren unter Naturwissenschaftern und durch Schulbücher populär wurde, verlor es in der Wissenschaftsphilosophie etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung.

STANDARD: Sie machen sich in Ihrem Buch für eine Historisierung der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft stark und bringen dafür Beispiele von der Astrologie über die Parapsychologie bis zur Kryptozoologie …

Michael Gordin - Pseudoscience: A Very Short Introduction
50-minütiges Gespräch mit Michael Gordin über die englische Originalfassung seines Buchs über "Pseudowissenschaften".
Wellington Square Bookshop

Gordin: … wobei ich den Begriff Pseudowissenschaften nicht so gerne verwende, weil er von Vertretern der Wissenschaft oft als Kampfbegriff eingesetzt wird, um andere Leute schlecht dastehen zu lassen. Zudem waren bestimmte Wissensgebiete, die heute als Pseudowissenschaft bezeichnet werden, für lange Zeit mehr oder weniger legitime Teilbereiche der Wissenschaft.

STANDARD: Was zum Beispiel?

Gordin: Etwa die Astrologie oder die Alchemie. Die Astrologie war in der Renaissance definitiv noch eine Wissenschaft. Die meisten Astronomen waren damals auch Astrologen. Auch Galileo und Kepler beschäftigten sich damit, und Kepler glaubte fest an die Astrologie. Er war sogar Stadtastrologe von Graz.

STANDARD: Wann und wodurch wurde die Astrologie aus der Wissenschaft ausgegrenzt?

Gordin: Das war eine sehr langsame Entwicklung. Die Bedeutung der Astrologie begann sich mit der allmählichen Durchsetzung des kopernikanischen Weltbilds zu ändern. Damit stand nicht mehr die Erde im Zentrum, sondern die Sonne, was ein Problem für einen Gutteil der astrologischen Metaphysik wurde. Denn diese geht davon aus, dass wir im Zentrum des Universums stehen. So kam es, dass etliche Astronomen die Fragen der Astrologen und deren Annahmen über die Beeinflussung der Welt durch die Sterne für überholt hielten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Astrologie zumindest in der westlichen Welt nicht mehr als seriös angesehen. Danach wurde von der Wissenschaft auch ganz bewusst eine Ausgrenzung der Astrologie betrieben.

STANDARD: Dennoch lebt die Astrologie weiter.

Gordin: Ja, vor allem in Südasien ist die Astrologie als kulturelle Praxis nach wie vor weit verbreitet. Es gibt ja auch einen tatsächlichen Einfluss der Himmelskörper auf die Erde: Die Sonne versorgt uns mit Licht und Energie, der Mond sorgt für die Gezeiten, und in gewisser Weise stellt die Astrologie eine aus heutiger Sicht illegitime Erweiterung dieser Beeinflussungen dar. Bei anderen Grenzwissenschaften ist das anders: Der Anti-Atomismus beispielsweise, dem rund um 1900 auch noch Ernst Mach anhing, ist im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts völlig verschwunden.

STANDARD: Wie gefährlich können Pseudowissenschaften für die Gesellschaft werden – angesichts der geschürten Angst vor Covid-19-Impfungen oder des Zweifels an der von Menschen verursachten Erderwärmung?

Gordin: Ich würde da sehr zwischen verschiedenen pseudowissenschaftlichen Behauptungen unterscheiden. Die Vorstellung, dass es in Loch Ness ein Ungeheuer geben könnte oder Bigfoot in den Rocky Mountains, halte ich für ziemlich harmlos. Aber es gibt auch Ideen, die für die Gesellschaft sehr gefährlich sind – etwa dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe nichts mit dem Klima zu tun hat. Auf solche Ideen sollten wir in der Wissenschaft unsere Aufmerksamkeit richten und uns fragen, warum sich solche Ideen verfangen. Im Fall der Impfungen war es lange vor Covid-19 die unbegründete Sorge, dass Impfungen zu Autismus führen könnten. Solche Sorgen sollte man ganz konkret ansprechen.

STANDARD: Würde es helfen, die naturwissenschaftliche Bildung ganz allgemein zu stärken, um solchen Ideen das Wasser abzugraben?

Gordin: Ich bin diesbezüglich skeptisch. Dieser Ansatz ist erstens sehr ressourcenintensiv – und zweitens trägt er nicht unbedingt dazu bei, diese gefährlichen Ideen weniger wirkmächtig zu machen, wie Studien zeigten. Wichtiger wäre es, ein realistisches Bild der wissenschaftlichen Praxis und ihrer menschlichen Akteure zu vermitteln. Das Erstaunliche an der Forschung besteht für jemanden wie mich ja gerade darin, dass sie verlässliche Erkenntnisse produziert, obwohl sie von Menschen mit all ihren menschlichen Schwächen betrieben wird. (Klaus Taschwer, 19.11.2023)