eine traurig aussehende Frau mit dunklen Haaren trägt eine weiße Wollmütze und hat sich unter einer hellblauen Decke eingekuschelt
Erkältungen veranlassen uns zu nützlichen Verhaltensweisen: Wir wollen lieber im Bett bleiben als unter Menschen zu gehen. Selbst die scheinbar unpraktische Appetitlosigkeit erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit.
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In der Philosophie lautet eine der zentralen Fragen: Was können wir wissen? Was kann das menschliche Gehirn darüber lernen, wie ein menschliches Gehirn funktioniert? Zumindest manchen Aspekten dieser Frage nähert sich die Neurobiologie über Versuche an Mäusen. Zu den renommiertesten Vertreterinnen dieser Forschung gehört Catherine Dulac, Tochter einer Literaturwissenschafterin und eines Philosophen.

Die französisch-amerikanische Biologin ist Harvard-Professorin und bekannt dafür, bei Säugetieren erstmals Rezeptoren für Pheromone, also Duftstoffe zur Kommunikation, aufgespürt zu haben. Bei all der Geruchsforschung liegt nahe, dass sie sich auch mit Erkältungen befasst. Dulac erhielt 2021 den hochdotierten Breakthrough-Preis in der Kategorie Lebenswissenschaften. Vergangene Woche besuchte sie Wien, um die Hans-Tuppy-Lecture der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Uni Wien zu halten.

STANDARD: Die Erkältungssaison hat begonnen, und die Forschung zeigt uns: Nicht nur Erreger und Immunsystem beeinflussen unsere Symptome, sondern vor allem unser Gehirn. Wie kann ich mir das vorstellen?

Dulac: Intuitiv denken wir, dass wir Fieber haben und apathisch sind, weil Viren oder Bakterien toxisch sind oder das eine Nebenwirkung unseres aktiven Immunsystems ist. Tatsächlich vermehren sich Erreger bei erhöhter Temperatur schlechter, und es ist gut, wenn wir Energie sparen, um die Krankheit zu bekämpfen. Aber es stellt sich heraus, dass die Hauptursache für diese Symptome unser Gehirn ist. Es aktiviert dafür bestimmte Neuronen.

STANDARD: Manche Symptome sind kontraintuitiv, wie die Appetitlosigkeit, obwohl wir Energie brauchen.

Dulac: Es gibt Studien dazu, dass die Überlebensrate von kranken Mäusen erheblich sinkt, wenn man sie zum Essen zwingt, also sie mit einer Magensonde füttert. Der Grund dafür ist kompliziert – je nach Art des Erregers sind bestimmte Stoffwechselwege besser oder schlechter für das Überleben. Erstaunlich ist, dass die Symptome auch bei Tauben und Honigbienen nachgewiesen wurden, sogar bei Reptilien, die ihre Temperatur nur erhöhen können, indem sie einen wärmeren Platz suchen. Es ist also eine verbreitete Anpassung, um die Chance zu verbessern, Krankheiten zu überstehen.

STANDARD: Und ich muss mich nicht nur am Riemen reißen, um krank keine Menschen zu treffen und sie anzustecken, sondern habe tatsächlich weniger Lust darauf, auszugehen.

Dulac: Ja, beides spielt eine Rolle. Ich denke, auch die Covid-Pandemie hat uns gezeigt, dass es wichtig ist, sich auszuruhen, wenn man krank ist und keine Lust hat, viel zu tun. Das heißt nicht, dass man faul ist. Es ist eine schlechte Idee, mit Covid weiterzuarbeiten und aktiv zu sein.

STANDARD: Passend dazu haben Sie auch Folgen von Isolation erforscht.

Dulac: Wir haben basierend auf älteren Studien gezeigt, dass Mäuse langes Alleinsein kompensieren. Zurück in ihrer Gruppe sind sie enorm sozial, beschnüffeln und berühren sich gegenseitig viel. Je länger ein Tier isoliert ist, desto stärker ist dieser Effekt. Ähnliches gilt für unsere Bedürfnisse nach Schlaf, Nahrung und Wasser. Da haben wir eine Art Zähler im Hirn, einen Sollwert, der sagt, welches Ausmaß wir brauchen. Das ließ uns vermuten: Es gibt ein ähnliches System für soziale Interaktion. Und wir haben solche Neuronen bei Mäusen gefunden. Das ist einfach unglaublich.

Neurobiologin Catherine Dulac, eine ältere Frau mit kurzen, braunen Haaren und rahmenloser Brille. Sie trägt eine schwarze Jacke und einen bunten Schal.
Die Neurobiologin Catherine Dulac hielt vergangene Woche einen Vortrag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
ÖAW/Daniel Hinterramskogler

STANDARD: Es gibt einen Account auf X, vormals Twitter, der Artikel mit Titeln wie "Cola trinken kann Hoden vergrößern" teilt und ergänzt mit "in Mäusen", weil diese Studien nur an Mäusen durchgeführt wurden. Wie viel können wir wirklich von Mäusen über Menschen lernen?

Dulac: Klar, eine Maus ist kein kleiner Mensch und ein Mensch keine große Maus. Man muss bei der Anwendung solcher Ergebnisse sehr vorsichtig sein. Festzuhalten ist aber: Die beschriebenen Bedürfnisse werden im Gehirn vom Hypothalamus gesteuert. Bis jetzt sind alle entdeckten Funktionen dieser Hirnstruktur stark konserviert (evolutionär kaum verändert, Anm.). Das gilt etwa für die Kontrolle von Schlaf, Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme, sowohl bei Fischen und Reptilien als auch bei Säugetieren. Wir können solche Experimente natürlich nicht an Menschen durchführen, und unsere soziale Interaktion ist stark ritualisiert und von Phänomenen der evolutionär jüngeren Großhirnrinde beeinflusst. Aber wir leiden in ähnlicher Weise unter Isolation wie eine Maus. Es würde mich nicht überraschen, wenn wir beim Menschen die gleiche Neuronenansammlung fänden.

STANDARD: Es gibt auch Unterschiede zwischen wilden Mäusen und Labortieren, die auf gewisse Eigenschaften hin gezüchtet wurden. Etwa bei jungen Mäusen, die Mausbabys töten.

Dulac: Das ist einer der Gründe, weshalb wir in künftigen Projekten an Wildtieren forschen wollen. Beim Infantizid sind wilde Mausweibchen so aggressiv wie Männchen. Forscher haben Weibchen, die Babys töten, aus ihren Mäusekolonien im Labor herausselektiert.

STANDARD: Sie brauchten die Jungtiere ja für ihre Forschung.

Dulac: Genau, deshalb wurden im Labor große Verhaltensunterschiede zwischen Weibchen und Männchen beobachtet. Aber auch im Labor töten Weibchen manchmal Jungtiere, etwa unter Stress.

STANDARD: Wie schnell wechselt das jungtiertötende Verhalten?

Dulac: Wir wissen, dass Männchen sich, drei Wochen nachdem sie sich gepaart haben, wie fürsorgliche Väter verhalten. Das entspricht der Dauer einer Mäuseschwangerschaft. Das passiert nicht, weil sie ihre eigenen Jungen erkennen, sondern weil sie zur Zeit passen, in der eigener Nachwuchs auf die Welt kommen sollte.

STANDARD: Sie haben herausgefunden, welche Nervenschaltkreise bei diesen Veränderungen aktiv werden. Kann das dazu beitragen, Medikamente zu entwickeln? Nach der Geburt eines Kindes haben zehn bis 15 Prozent der Mütter sogenannte postpartale Depressionen.

Dulac: Ich hoffe, dass das Verständnis dieser Grundlagenforschung zumindest hilft. Wenn man Zelltypen, die in Mäusen eine Rolle spielen, auch bei Menschen findet, könnten wir Gene identifizieren, die für ihre Ausprägung wichtig sind oder für relevante Rezeptoren. Davon könnten Patientinnen profitieren.

STANDARD: Wie sieht es bei der Erforschung von Verhaltensunterschieden zwischen Weibchen und Männchen aus?

Dulac: In den 1940er- und 1950er-Jahren gab es noch interessante Berichte von Verhaltensforschern über Männchen, die sich wie Weibchen verhielten, und Weibchen, deren Verhalten dem von Männchen ähnelte. Die Forscher waren überrascht und vermuteten, dass auch die Vorlage für das Verhalten des anderen Geschlechts in einem Tier vorhanden ist. Die bessere Erforschung von Sexualhormonen hatte auch zur Folge, dass Verhaltensweisen stärker entweder als männlich oder weiblich klassifiziert wurden, dazwischen gab es nichts. Gleichzeitig kann der Spiegel von Hormonen wie Testosteron stark fluktuieren, von einer Minute zur nächsten.

STANDARD: Dabei gelten Hormone als das langsamere, langfristigere System neben dem Nervensystem.

Dulac: Es ist sehr schwierig, rasche Veränderungen im Hormonlevel zu erforschen, aber beim Versuch waren Fachleute erstaunt, wie schnell das geht. In Modellen werden solche Schwankungen vermieden, indem jungen Mäusen die Geschlechtsorgane entfernt werden und sie Implantate erhalten, die Testosteron oder Östrogene abgeben. Damit verschwindet aber auch die Variation im Verhalten der Mäuse, Männchen verhalten sich so, Weibchen anders. Aber das passiert in der Natur so nicht.

Mäusebabys, umgeben von Stroh
Wildtiere verhalten sich anders als Mäuse im Labor, sind aber durch die weniger stark kontrollierten Bedingungen schwieriger zu erforschen.
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STANDARD: Sie haben sich auch insbesondere mit dem System der Pheromone beschäftigt, das bei Menschen so nicht existiert.

Dulac: Ja, zumindest nicht über das Vomeronasalorgan, das viele andere Säugetiere haben. Jede Art verfügt über ihre eigenen Kommunikationssysteme. Bei Mäusen ist ein Drittel des Gehirns für die Geruchsverarbeitung zuständig. Bei Primaten, auch beim Menschen, nimmt die visuelle Verarbeitung etwa dieses Ausmaß ein.

STANDARD: Welche evolutionären Vorteile hat es, wenn wir uns auf das Visuelle konzentrieren?

Dulac: Fragen zur Evolution sind immer etwas schwierig zu beantworten, weil wir sie nicht mit Sicherheit erklären können. Aber ich finde interessant, dass in Primaten der enorme Verlust an Geruchsrezeptoren einhergeht mit der Verdoppelung eines Opsin-Gens, das uns rote und grüne Farben sehen lässt. Das lieferte einen riesigen Vorteil: Individuen konnten reife von unreifen Früchten unterscheiden. Statt des Geruchs war es ihnen möglich, sich auf das Sehen zu verlassen, das auch auf große Distanz funktioniert.

STANDARD: Ihre Forschung wurde Ihnen in den USA in einem eigenen Labor ermöglicht – im Gegensatz zu Angeboten aus Frankreich, wo Sie promoviert haben und wohin Sie ursprünglich zurückkehren wollten. Auch in Österreich ist es oft schwierig, kluge Köpfe ins Land zu bringen und hier zu halten. Sehen Sie das als europäisches Problem?

Dulac: Zunächst ist es schwierig, das zu vergleichen. In den USA, wo ich arbeite, herrscht ein System vor, während in Europa jedes Land ein anderes System hat. Aber ich denke, ein Merkmal des amerikanischen Systems ist die Flexibilität der privaten Universitäten, denen durch Fundraising viel Geld zur Verfügung steht. In Europa sehen wir zum Beispiel große Erfolge in den Systemen der deutschen Max-Planck-Institute, des Wellcome Trust mit Sitz in London und der Schweizer Nationalstiftung, die eine Menge Geld haben.

STANDARD: Es ist also wie so oft eine Frage des Geldes – und Inflation, Energiekosten und Co erschweren die Lage.

Dulac: Ja, es geht aber auch um die Frage: Wie viel Vertrauen setzt man in junge Menschen? In den USA wird sehr viel in junge Leute investiert, damit diese ihr eigenes Labor gründen können. Sie bekommen mehrere Millionen, ihre Projekte werden nach fünf oder zehn Jahren evaluiert und bekommen mehr Förderung, wenn die Arbeit gut war. Mit europäischen Systemen kenne ich mich weniger aus, aber sie erscheinen mir eher risikoscheu. Hier behält man eine Position öfter für die ganze Karriere. Dadurch werden aber auch nicht unbedingt große Mengen an Geld investiert, weil es vielleicht nicht funktioniert.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, dass sich Ihre Forschungsthemen mit Fragen beschäftigen, die in den Romanen auftauchten, die Sie als junge Frau gelesen haben. Hat es Sie entsprechend zur Literatur des Realismus oder Naturalismus gezogen, die sich dadurch auszeichnet, die Lebensbedingungen der Handelnden genau zu beschreiben?

Dulac: Dahinter steckten nicht nur Autoren wie Émile Zola, der von der Härte der Welt erzählt, sondern auch Marcel Proust und seine außergewöhnliche Beschreibung von dem, was in einem Kopf vorgeht. Es ist so interessant, wie wir versuchen, uns selbst zu verstehen. Viele denken, dass es die hochentwickelte Hirnrinde ist, die all unsere Gedanken und unser Handeln steuert. Meiner Ansicht nach ist das aber falsch, weil das nur oberflächlich unsere Funktionsweise erklärt. Gleichzeitig gibt es immerhin einen großen Teil des Gehirns, der unsere Bedürfnisse steuert. Diese sind nicht immer einfach zu fassen: Wir wissen meistens, wenn wir hungrig, durstig oder müde sind, und können uns darum kümmern. Wenn wir einsam sind, ist das oft nicht so eindeutig, aber es ist auf den gleichen Gehirnbereich zurückzuführen. Nicht viel von unseren inneren Bedürfnissen kommt an die Oberfläche – und das hat mich schon immer fasziniert. (Interview: Julia Sica, 18.11.2023)