Hans Holbein zeigt eine gelangweilte Dame. Es könnte Katherine Howard sein, die fünfte Frau Heinrichs VIII.
Hans Holbein zeigt eine gelangweilte Dame. Es könnte Katherine Howard sein, die fünfte Frau Heinrichs VIII.
Royal Collection Trust/ His Majesty King Charles III

Wohl niemand hat das Image des englischen Tudorkönigs Heinrich VIII. (1509–47) und der Renaissancegesellschaft bei Hofe so geprägt wie Hans Holbein der Jüngere. Da steht der Mann mit den sieben Frauen breitbeinig im juwelenbestickten Prachtornat, den Dolch am Gürtel – eine Verkörperung der absolutistischen Monarchie des 16. Jahrhunderts. Freilich mag, wer genau hinsieht, auch eine Ahnung bekommen von Heinrichs beginnender Fettleibigkeit.

Wer Holbeins Kunst betrachtet, dürfte häufiger diesen Eindruck bekommen: Es sind lebensechte Menschen, die sich, von der Kleidung abgesehen, kaum von unseren Zeitgenossen unterscheiden; gleichzeitig sind da versteckte Hinweise, Andeutungen allzu menschlicher Schwäche hinter dem Imponiergehabe der Schönen und Reichen, die sich vom Meister verewigen lassen wollten.

Dem aus Augsburg gebürtigen, in Basel zu Ruhm gelangten Künstler widmet die Londoner Queen’s Gallery, im Schatten des Buckingham Palace mitten in der Stadt gelegen, eine fabelhafte Ausstellung. Von wenigen wertvollen Leihgaben abgesehen sind hier Stücke aus der umfangreichen Royal Collection zu sehen – viele davon Schätze, die normale Kunstgenießer nie zu Gesicht bekommen, weil sie in den Katakomben von Schloss Windsor ruhen oder die Ballsäle der diversen Königspaläste zieren.

Einstiger Hofmaler

Zum Versicherungswert von mehreren Milliarden Pfund tragen nicht nur kostbare Gemälde von Tizian, Rembrandt oder eben Holbein bei; von Charles III. "als Treuhänder für seine Nachfolger und die Nation" – man beachte die Reihenfolge – verwaltet werden auch gewaltige Sammlungen von Zeichnungen, darunter die wohl bedeutendste Anhäufung von Skizzen des Universalgenies Leonardo da Vinci – und eben Holbeins. 80 Zeichnungen des einstigen Hofmalers bilden den Kern der Ausstellung, zum Teil sind sie jenen Gemälden gegenübergestellt, die auf Grundlage der Skizzen entstanden.

Es wurde der ehrenwerte Versuch unternommen, den Meister in seiner Zeit zu präsentieren: vielleicht eine Mahnung an das schwindende Häuflein von Brexiteers, dass die Insel doch stets Teil der europäischen Politik, Wissenschaft und eben auch Kultur war.

Zu sehen sind also auch Werke von Konkurrenten und Zeitgenossen, darunter ein Ölgemälde aus der flämischen Schule. Die köstliche Studie präsentiert den damaligen Herzog von Burgund und späteren Kaiser Karl V. mit langgezogenem Kinn ("Habsburger Lippe"), unverkennbar ein Angehöriger der einst mächtigsten Dynastie Europas.

Blick in die Ausstellung.
Blick in die Ausstellung.
Royal Collection Trust / His Majesty Charles III

Holbein hatte sich nach den guten Basler Jahren zunächst an den französischen Hof begeben. Dort kann der Erfolg nicht groß gewesen sein, jedenfalls kam der knapp 30-Jährige 1526 nach London, einen Empfehlungsbrief des berühmten Humanisten Erasmus von Rotterdam im Tornister. Bald brummte das Geschäft: Lordkanzler Thomas More, der alternde Erzbischof von Canterbury, der Finanzexperte Henry Guildford und seine Gattin Anna – Holbein ging bei den Einflussreichen und Mächtigen ein und aus und gewann den Ruf, die Porträtierten unnachahmlich lebensnah darzustellen. Holbeins Qualität lässt sich am brillanten Gemälde des jungen Kaufmanns Derich Born ablesen – lässig lehnt der Porträtierte an einem Podest, das auf Lateinisch folgende Inschrift trägt: "Fügen Sie eine Stimme hinzu, und Sie haben Derich selbst", steht da. Tatsächlich traut man dem Kaufmann zu, gleich aus dem Rahmen herauszutreten.

Delikate Mission

Mitte der 1530er-Jahre ergatterte Holbein den begehrten Status eines Königsmalers. Der peniblen Buchführung bei Hofe zufolge war er mit dem Jahressalär von 30 Pfund, was heute etwa 14.500 Euro entsprechen würde, keineswegs Heinrichs bestbezahlter Künstler, aber hoch angesehen. Sonst wäre Holbein nach dem Tod von Jane Seymour, Heinrichs dritter Frau, wohl kaum auf eine delikate Mission geschickt worden. 1538 und 1539 unternahm er Reisen, um Kandidatinnen für den König in Augenschein zu nehmen. In Brüssel saß ihm Christina von Dänemark, verwitwete Herzogin von Mailand, drei Stunden lang Porträt. In Kleve malte er die Herzogstöchter Anna und Amalia, nachdem ängstliche Hofschranzen vorhergehende Bilder als nicht lebensnah genug verworfen hatten.

Sir Henry Guildford, einer der engsten Freunde von Heinrich VIII.
Sir Henry Guildford, einer der engsten Freunde von Heinrich VIII.
Royal collection Trust / His Majesty Charles III

Darf man sich Holbein also als einfühlsamen Menschenkenner vorstellen, dem es mit geschmeidiger Diplomatie gelang, noch einmal Zugang zu den Objekten der royalen Begierde zu erlangen? "Ja, das wüssten wir gern", antwortet Kuratorin Kate Heard ob der wenig ergiebigen Quellen. Immerhin sei "sein Ruhm zu diesem Zeitpunkt schon in ganz Europa verbreitet" gewesen – ihm Porträt zu sitzen war also ehrenvoll.

Dem König gefiel das Bild der Anna von Kleve so gut, dass er sofort den Heiratsvertrag unterschrieb. Freilich unterschieden sich Darstellung und Realität damals wie in unserer digitalen Welt: Der lebende Mensch Anna fand keine Gnade vor dem König, die Ehe wurde nach einem halben Jahr für ungültig erklärt. Für Holbein ein Rückschlag: Die Aufträge vom Königshof blieben aus, den Status als Hofmaler durfte er aber bis zu seinem Tod im Jahr 1543 behalten. (Sebastian Borger aus London, 16.11.2023)