Wenn sie am Sonntag an die Urne gehen, stehen Argentiniens Wählerinnen und Wähler vor einem Dilemma: Stimmen sie für den eher drögen Wirtschaftsminister Sergio Massa, dessen peronistische Partei das Land in den vergangenen Jahrzehnten in die wirtschaftliche Dauerkrise geführt hat? Oder für Javier Milei, einen verhaltensauffälligen libertären Ökonomen, der dem Staat mit einer Kettensäge auf den Leib rücken will und dessen Vizekandidatin die Militärdiktatur verherrlicht?

Javier Milei und Sergio Massa sind in der Stichwahl um die Casa Rosada, Argentiniens Präsidentenpalast.
Javier Milei und Sergio Massa sind in der Stichwahl um die Casa Rosada, Argentiniens Präsidentenpalast.
AFP/JUAN MABROMATA/LUIS ROBAYO

Umfragen ergaben bis zuletzt kein klares Bild. Der libertäre Milei hat in den meisten einen klitzekleinen Vorsprung, der aber kaum über die statistische Fehlermarge hinauskommt. In der ersten Runde lag Massa mit über sechs Punkten vorne. Der sehr emotional geführte Wahlkampf dürfte in letzter Minute von den Wechselwählern entschieden werden. Unklar ist, ob Milei eine knappe Niederlage anerkennen würde; in den vergangenen Tagen streuten er und sein Team Zweifel am als solide geltenden Wahlsystem.

Sergio Massa lag bei der ersten Wahlrunde sechs Prozentpunkte vorne
Sergio Massa lag bei der ersten Wahlrunde sechs Prozentpunkte vorne.
AFP/JUAN MABROMATA
Umfragen sehen Javier Milei in der zweiten Runde knapp vorne
Umfragen sehen Javier Milei in der zweiten Runde knapp vorne.
AFP/LUIS ROBAYO

Liebeswerben

In den vier Wochen zwischen erster Runde und Stichwahl haben die Rivalen versucht, ihre Wählerbasis zu verbreitern. Der Jurist Massa, indem er sich vom linken Flügel seiner peronistischen Partei distanzierte und sich als gemäßigten Reformer präsentierte, der für Stabilität und die Bewahrung der Demokratie sorgt. Milei trat weniger schrill auf, um die konservative Unternehmerelite von sich zu überzeugen.

Das heftige Liebeswerben von beiden Seiten führte dazu, dass die bürgerliche Mitte, die im ersten Wahlgang die drittplatzierte Konservative Patricia Bullrich unterstützt hatte, auseinanderbrach und es nun nur individuelle Unterstützungszusagen für den einen oder anderen gibt. Ob sich das Wahlvolk an diese Empfehlungen halten wird, steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Eine gewichtige Rolle spielt in der zweiten Runde Axel Kiciloff, der wiedergewählte peronistische Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires. Er stellte sich und den wegen seiner klientelistischen Effizienz gefürchteten peronistischen Parteiapparat hinter Massa. Der Unternehmer und ehemalige Präsident Mauricio Macri hingegen unterstützt Milei – eine Geste, die viele als Versuch der konservativen Elite interpretieren, den impulsiven Libertären "einzuhegen". Milei kann vor allem bei den Jungwählern punkten, die sich vom Peronismus um ihre Zukunft geprellt fühlen.

Inflation und Korruption

Ideologisch stehen die beiden in konträren Lagern. Massa wird von der lateinamerikanischen Linken unterstützt und steht für eine klientelistische Staatswirtschaft mit Fokus auf soziale Umverteilung. Er hat allerdings wenig vorzuweisen: Unter den Peronisten kletterte in den vergangenen Jahren durch eine fehlgeleitete Subventions- und Wechselkurspolitik die Inflation auf derzeit 138 Prozent im Jahr und die Armut auf 40 Prozent. Hinzu kommt eine Reihe von Korruptionsskandalen.

Milei hingegen ist der Hoffnungsträger der globalen Rechtsextremen, die nach US-Präsident Donald Trump und dem Brasilianer Jair Bolsonaro in Argentinien eine neue Chance sehen, den dort regional vergleichsweise gut ausgebauten Sozialstaat zu zerschlagen. Milei will die Zentralbank und zahlreiche Ministerien schließen, die Wirtschaft dollarisieren, den Waffenbesitz freigeben und die Privatwirtschaft Dinge wie Gesundheit und Bildung regeln lassen. Mit diesen radikalen Rezepten fordert er den Status quo heraus, betritt gleichzeitig aber auch unbekanntes Terrain, das Argentinien – einst siebentgrößte Volkswirtschaft der Welt – vollends in den Abgrund führen könnte, wie über 100 Wirtschaftsexperten warnen.

Keine klaren Mehrheiten

Der neue Staatschef erbt Rezession, Inflation, leere Staats- und Zentralbankkassen und internationale Investoren, die wenig Lust haben, dem notorischen Schuldner weiter Geld zu leihen. Keiner der beiden Kandidaten hat im Kongress eine klare Mehrheit, um sein Programm umzusetzen – vor allem nicht Milei. Massas peronistische Koalition, Unión por la Patria, wird 34 von 72 Sitzen im Senat haben, während Mileis libertäre Partei nur acht kontrolliert und nur 37 Abgeordnete im 257 Sitze zählenden Abgeordnetenhaus.

Im Vorfeld der Stichwahl sind laut berichten insgesamt fünf Menschen wegen mutmaßlicher Drohungen gegen Massa festgenommen worden. Nach der Festnahme von drei Männern und einer Frau am Freitag wurde am Samstag Sicherheitsminister Aníbal Fernández zufolge eine 18-jährige Frau in der nordargentinischen Stadt Salta festgenommen. Massa und seine Familie stehen unter Personenschutz.

Erfahrungen aus anderen lateinamerikanischen Ländern zeigen, dass Präsidenten es ohne die Unterstützung des Kongresses oft nicht einmal bis zum Ende ihrer Amtszeit schaffen – oder dann zu manipulierten Plebisziten und autoritären Maßnahmen wie dem Ausnahmezustand greifen, um Widerstände zu brechen. So festigten beispielsweise die Staatschefs in El Salvador und Venezuela ihre Macht. (Sandra Weiss, 19.11.2023)