Hör auf zu lügen
Thomas ist ein Mädchenschwarm, aber in sich gefangen (Julien De Saint Jean, rechts), Stéphane ein Nerd (Jérémy Gillet), der sich in seinen Fantasiewelten verliert.
TS Productions

Mit 17 liegt das Leben noch vor einem. Manchmal sind die besten Momente aber auch schon wieder vorbei. Nach der Schule wird Thomas den elterlichen Hof in dem kleinen französischen Ort übernehmen und sein Leben fortan zwischen Aussaat und Ernte verbringen. Stéphane dagegen wird dem Kaff den Rücken kehren und eine erfolgreiche Laufbahn als Schriftsteller einschlagen.

Der Unterschied zwischen beiden: Thomas glaubt zu wissen, dass er dem Leben am Hof seiner Eltern nicht entrinnen kann. Als Einzelkind hängt die Zukunft des landwirtschaftlichen Betriebs an ihm. Seine Homosexualität ist tief in den Achtzigerjahren mehr als eine Bürde. Also verleugnet er sie nach dem intensiven gemeinsamen Frühling mit Stéphane beinahe den Rest seines Lebens lang.

Was in den wenigen Monaten zwischen dem ersten Kuss und dem Schulabschluss im fernen Jahr 1984 geschieht, darin liegt der emotionale Kern von Olivier Peyons gefühlvoller Verfilmung von Philippe Bessons Roman Hör auf zu lügen. In Rückblenden zeigt der Regisseur die ungelenke Annäherung der beiden Burschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine ein Mädchenschwarm, aber in sich gefangen (Julien De Saint Jean), der andere ein Nerd (Jérémy Gillet), der sich in seinen Fantasiewelten verliert und es kaum glauben kann, dass seine Zuneigung zum hübschen Thomas erwidert wird.

Macht der Verdrängung

Die Haupterzählebene des Films liegt aber in der Gegenwart und erzählt gleichermaßen von der Macht der Verdrängung wie der Beschwörungskraft von Literatur. 35 Jahre nach den ersten Gehversuchen in der Welt der Liebe und Sexualität kommt der mittlerweile zu einem bedeutenden Schriftsteller gewordene Stéphane zurück in sein Heimatdorf und trifft auf Thomas’ Sohn Lucas (in der Rolle ist Jean-Paul Belmondos Enkel Victor zu sehen), der nach dem Selbstmord des Vaters den geheimen Spuren in dessen Leben nachspürt.

Was folgt, ist das Zusammensetzen eines Puzzles, das sowohl den sich mittlerweile in seinen Fünfzigern befindlichen Stéphane (Guillaume De Tonquédec) als auch Lucas zwingt, sich den eigenen Wunden zu stellen. Das Schweigen muss gebrochen werden, womit vor allem der erfolgreiche Autor seine liebe Not hat. Er, der wie kaum jemand sonst über die Liebe schreiben kann, so heißt es einmal, ist seit den traumatischen Ereignissen mit 17 kaum mehr der Liebe fähig.

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Das Schreiben wurde für ihn zum Fluchtort und zur Kraftkammer, und es ist eine schöne Volte dieses zurückhaltenden, sich ganz auf die psychologische Auffächerung seiner Charaktere konzentrierenden Films, dass darin auch das karthartische Ende des Films gipfelt.

Dass dieser in den stimmungsvollen Landschaften der westfranzösischen Cognac-Gegend spielt, trägt viel zu seiner Leichtigkeit bei, die sich trotz der Schwere des Themas einstellt. Das Versteckspielen gehört schon längst der Welt von gestern an, 35 Jahre nach den Verletzungen ist es an der Zeit, mit der Vergangenheit und ihren Dämonen abzuschließen. (Stephan Hilpold, 17.11.2023)