Gallium schmilzt bereits bei Temperaturen von unter 30° C. Der Künstler Peter Bauhuis stellte aus dem Material Schmuck her, von dem er behauptete, er stamme aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr.
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Vor Jahren besuchte ich in München eine von Peter Bauhuis kuratierte Ausstellung, die mich ungemein faszinierte. Aus dem Ausstellungskatalog: "Im Juni 2005 fanden Mitarbeiter des Instituts für Neuere Archäologie in einer halbverrotteten Holzkiste in einer Pension am Hallstätter See die Hinterlassenschaften eines Wiener Archäologen, unter anderem etwa 80 Schmuckstücke aus einem grauweißen Metall. Der Schmuck war unschwer als eisenzeitlich einzuordnen und war aus Gallium gefertigt, einem Metall, das schon bei einer Temperatur von unter 30° C zu schmelzen beginnt. Es ist also nicht möglich, diesen Schmuck zu tragen. Zu welchem Zweck wurden im sechsten Jahrhundert v. Chr. so aufwendige Artefakte hergestellt? Die Ausstellung wirft Licht auf ein Rätsel der Vergangenheit und stellt die Frage: Müssen wir unser Verständnis für vorgeschichtliche Bestattungs- und Aufbewahrungsriten überdenken?"

Berechtigter Rüffel

Als ich in weiterer Folge erfahren musste, dass Bauhuis den archaisch anmutenden Gallium-Schmuck selbst hergestellt hatte, somit ein sogenannter Fake-Künstler ist, regte mich diese seine geniale Fälschung zum Nachdenken an – und ich schrieb den Essay Über Wahrheit und Lüge in der Kunst – mit besonderer Berücksichtigung der Teheraner Genusseheringe als popkulturelles Phänomen.

Vor Jahren erteilte mir ein berühmter Schriftsteller einen Rüffel. Ich hatte ihn darauf hingewiesen, dass der Name "Teheran" in jenem Roman, an dem ich damals arbeitete, nicht für die real existierende Stadt gleichen Namens steht, sondern ein imaginäres Land bezeichnet. Es gehe nicht an, meinte jener Berühmte, dass ein Autor seinem Roman quasi als lebender Beipackzettel nachlaufe, um dem Publikum zu erklären, wie dieser zu verstehen sei. Der Rüffel schien mir mehr als berechtigt. Ich fühlte mich beschämt und beschädigt. Was mich aber nicht daran hinderte, die Versuche, meine literarischen Texte zu erklären, weiterzuführen. Bei einer Lesung aus meinem Roman Teheran Wunderland las ich vor Beginn der eigentlichen Lesung einen Essay vor, der wieder den Hinweis enthielt, dass der Name "Teheran" in diesem Roman nicht die real existierende Stadt gleichen Namens bezeichnet.

Empörung unter den Zuhörern

Unmittelbar nach der Lesung zeigte sich ein Bekannter aus dem real existierenden Teheran über die vorgelesene Romanpassage irritiert und empört. Darin ist von einem Umerziehungslager für "politisch irregeleitete" Menschen die Rede, in dem paradiesische Zustände herrschen. Wie können Sie, schrieb mein Landsmann, statt Ihre Leserinnen und Leser über die wahren Zustände in Teheran aufzuklären, solch ein "liberales Bild" vom dortigen Regime zeichnen? Ich antwortete, ich hätte ohnehin erklärt, dass "Teheran" in Teheran Wunderland mit dem real existierenden Teheran nicht ident sei. Dass es sich um einen Roman und nicht um einen Tatsachenbericht handle, dass ... in diesem Moment fiel mir der Rüffel jenes Schriftstellers ein – und ich musste schmunzeln. "Bisher dachte ich", dachte ich, "ich darf es ihnen nicht erklären. Sie sollen es selbst verstehen. Jetzt merke ich: Sie verstehen es auch dann nicht, wenn ich es ihnen erkläre."

Nun könnte man die geschilderte Kontroverse als absurd-skurrile Episode abtun, wäre sie nicht repräsentativ für weitverbreitete Tendenzen in aktuellen Kunstdebatten. Debatten, die den Eindruck erwecken, sie würden eine epochale Zäsur in der Geschichte der Kunstauffassung markieren (…)

Den Autor Sama Maani regte diese Fälschung zum Nachdenken an.
privat

Kunst als Lüge

In einer vereinfachten Skizze, ohne Anspruch auf akademische Korrektheit, wäre die erste Epoche der europäischen Kunstphilosophie von Platons Kritik an den Dichtern als schamlose Lügner bestimmt, deren Lügengeschichten geeignet wären, die Moral der jungen Generation zu untergraben. Nennen wir diese erste Epoche der Philosophie der Kunst respektive der Dichtung die Epoche der Kunst als Lüge (…)

Schon Aristoteles vertritt allerdings, nicht so sehr was ihren Charakter, vielmehr was ihren Stellenwert betrifft, eine gänzlich andere Theorie der Dichtung. Gibt er doch den Werken der Dichtung den Vorrang gegenüber der Geschichtsschreibung, da sie ernsthafter und philosophischer seien, während Historiker mitunter auch Belangloses berichteten.

Dieser Auffassung, die den fiktiven Charakter der Kunst nicht leugnet, ihr aber gerade deshalb einen höheren Rang zuweist als der bloßen Realität der Fakten, begegnen wir noch 2000 Jahre später bei Alexis de Tocqueville, der in Über die Demokratie in Amerika über den Renaissancemaler Raffael schreibt, er hätte danach gestrebt, die Natur zu übertreffen und die Schönheit selbst zu verschönern. Nennen wir die von dieser Kunstauffassung geprägte Epoche die Epoche der Kunst als Kunst oder der Kunst als ein Spiel, das uns stärker in seinen Bann zieht als bloße Tatsachen und das seit Aristoteles als das eigentlich Künstlerische an der Kunst galt. Galt, weil wir in jüngeren Kunstdebatten mit einer Tendenz konfrontiert sind, die den Werken der Kunst gerade dieses spielerische Als-ob nicht zugestehen will, um sie – ausgerechnet – der Wahrheit zu verpflichten.

Kunst als Wahrheit

Wenn etwa in Debatten darüber, ob nichtschwarze Übersetzerinnen und Übersetzer berechtigt sein mögen, das Gedicht einer jungen Afroamerikanerin zu übersetzen, über die Frage gestritten wird, ob jene Nichtschwarze in der Lage seien, sich in die Lebensrealität einer jungen Afroamerikanerin zu versetzen, als ginge es darum, sich wie eine Therapeutin in die Person der Autorin einzufühlen (…) Oder wenn eine als kritische Auseinandersetzung mit der Praxis der Exekution in den USA konzipierte Installation allen Ernstes als reale Reproduktion einer Exekution wahrgenommen wird, dann haben wir es mit einer Kunstauffassung zu tun, die die Kunst qua Wahrheitspflicht entkunstet. Nennen wir unsere von dieser Kunstauffassung geprägte Epoche die Epoche der Kunst als Wahrheit. Vor diesem Hintergrund bin ich versucht, Peter Bauhuis’ geniale Fälschung als radikale kritische Intervention zu interpretieren, die angesichts der aktuellen Tendenzen die Reset-Taste betätigt, um zur platonischen Auffassung der Kunst als Lüge zurückzukehren – in der Hoffnung, von dort aus der Kunst die Perspektive zu eröffnen, irgendwann wieder als Kunst wahrgenommen zu werden.

Ich bin kein Experte, sagt Dr. Polar, aber deine Analyse ist, entschuldige bitte, absurd. Es gibt doch in der Literatur nach wie vor unzählige Texte, die rein fiktiv sind – und niemand käme auf die Idee, sie für wahr zu halten. Diese Geschichte zum Beispiel, in deinem Roman Teheraner sind Amerikaner, über den Geschäftsmann aus Teheran, wo es eh auch um den Gallium-Schmuck geht (…)

Sama Maani, "Warum uns der Iran nicht wurscht sein sollte – und Sigmund Freud und Robert Musil auch nicht. Essays, Interviews literarische Betrachtungen". € 14,95 / 90 Seiten. Drava, Klagenfurt 2023. Erscheinungstermin: 20. 11. 2023
Verlag

Faszination Gallium-Schmuck

Auf diese Geschichte will ich von Anfang an hinaus, sage ich, der Teheraner Geschäftsmann kommt also nach München, und zufällig führt ihn sein Weg zu der Bauhuis’schen Ausstellung, und er ist genauso fasziniert wie ich, und er fragt sich, ob man diese Gallium-Schmuck-Idee zu Geld machen könnte ...

Aus Wikipedia, der Freien Enzyklopädie: "In der Teheranisch-Islamischen Genussehe, die ausschließlich zum Zwecke des geschlechtlichen Genusses geschlossen wird, können ein Mann und eine Frau eine Ehe durch einen unwiderruflichen Vertrag eingehen … Notwendig sind Angaben über den an die Frau zu entrichtenden Lohn sowie über den Zeitraum, welcher in der Regel eine halbe Stunde beträgt ..."

Zurück in Teheran, erteilt unser Geschäftsmann einem Goldschmied den Auftrag zur Anfertigung eines Kontingents an Fingerringen aus Gallium – um diese in speziell auf Angehörige der Teheraner Gothic-Szene abgestimmten Werbeeinschaltungen als Genusseheringe anzupreisen. Einschaltungen, die auf düster-romantische Weise auf die Vergänglichkeit der Liebe anspielen. Das Projekt wird zum durchschlagenden Erfolg, womit niemand gerechnet hätte, nicht einmal unser Geschäftsmann.

Düster-romantisches Gruppenritual

Denn wer hätte gedacht, dass die altvaterische Institution der Teheranischen Genussehe ausgerechnet in Kreisen der Teheraner Gothic-Jugend auf begeisterte Akzeptanz stoßen würde? Allerdings wäre der Geschäftsidee nicht jener unglaubliche Erfolg beschieden gewesen, über dessen Ursachen Fachkreise der Soziologie sich seit Jahren in Teheran den Kopf zerbrechen, wäre der Verkauf der Genusseheringe auf die überschaubare Gothic-Szene in Teheran beschränkt geblieben und hätte der diskrete Charakter der traditionellen Teheranisch-Islamischen Genussehe sich nicht zu einem düster-romantischen Gruppenritual entwickelt, das Gerüchten zufolge mitunter orgiastisch entgleisend, mit der altehrwürdigen Institution der Teheranisch-Islamischen Genussehe genauso wenig zu tun hat wie eine Fronleichnamsprozession mit der Loveparade. (...) (Sama Maani, 18.11.2023)