Amitav Ghosh ist ein engagierter Erzähler, der mit seinen Büchern brisante und globale Themen aufgreift.
Gage Skidmore

Mit einer Aprilnacht des Jahres 1621 beginnt Amitav Ghosh seine Recherche Der Fluch der Muskatnuss. Er rekonstruiert ein Massaker auf den Banda-Inseln, bei dem ein Großteil der Bewohner getötet, ihre Behausungen niedergebrannt und ihre Boote beschlagnahmt wurden. Verübt wurde es unter dem niederländischen Gouverneur Jan Coen, der mit einer Flotte von 50 Schiffen und 2000 Mann zu den Inseln gesegelt war.

Es galt, der Niederländischen Ostindien-Kompanie das exklusive Recht an den Muskatnüssen und Muskatblüten, wie man den Samenmantel der Nüsse nennt, zu sichern. Als Fetischobjekt bezeichnet Ghosh die Muskatnuss. Für wertvoll habe man sie gehalten, weil sie Neid erregt habe und für Luxus und Reichtum gestanden sei.

Unterwerfen als Schlüsselwort

Ghosh sieht in der Muskatnuss ein "Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr", wie er sein Buch im Untertitel nennt. Ausgehend vom kolonialen Massaker an den Bandanesen, mahnt er zu einer Rückkehr jenes Denkens des Animismus und Vitalismus, das einst die Vorstellungen der Menschen von der Natur prägte. Den Ursprung der fatalen Abkehr von diesem Denken sieht er in der europäischen Aufklärung. Diese geistesgeschichtliche Epoche, die sich von den Niederlanden, England und Frankreich aus zu einer bestimmenden Denkrichtung des europäischen Geisteslebens entwickelte, stellt die Vernunft als einzige und letzte Instanz der Erkenntnis dar. Ghosh verweist auf den Philosophen Francis Bacon, der in seiner Schrift An Advertisement Touching an Holy War von missratenen Völkern schreibt und darlegt, dass christliche Europäer rechtmäßig handelten, wenn sie die Existenz bestimmter Gruppen auslöschten.

Eine "metaphysische Wende", die eine mechanistische Sicht auf die Erde hervorbrachte, nimmt Ghosh wahr. "Unterwerfen" sei das neue Schlüsselwort gewesen. "Erst nachdem wir uns die Welt als tot vorstellen konnten, konnten wir anfangen, sie auch tot zu machen", zitiert er den Schriftsteller Ben Ehrenreich. Und mit den Worten des indigenen Denkers Max Liboiron beschreibt er, wie für die Bandanesen das Land "ein einzigartiges Seiendes" war, "das in sich die Seele der Pflanzen, Tiere, des Wassers, der Menschen, der Geschichten und Ereignisse vereint".

Amitav Ghosh ist ein engagierter Schriftsteller. In Kolkata geboren und heute in New York lebend, greift er mit seinen Büchern globale und brisante Themen auf. Er hinterfragt bekannte historische Ereignisse, zeigt Zusammenhänge auf.

Kleine Eiszeit

So verweist er auf die Kleine Eiszeit, die vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zu verzeichnen war. Neuere Forschungen würden diese Eiszeit mit einem Rückgang der Bevölkerungszahlen in Verbindung bringen, weil so viele Native Americans gestorben seien, dass die zum Nahrungsanbau genutzten Flächen wieder verwaldet seien. Tatsächlich verstärkte Europa damals seinen Zugriff auf Nord- und Südamerika.

Aber nicht die mangelnde Immunität sei der Grund gewesen, warum ausgerechnet so viele Indigene den Krankheiten zum Opfer fielen, sondern der Einsatz dieser Krankheiten als Kriegswaffe. Ghosh zitiert einen britischen Händler, der während des sogenannten Pontiac-Aufstands am 24. Juni 1763 in seinem Tagebuch notierte: "Wir gaben ihnen zwei Decken und ein Schnupftuch aus dem Pockenhospital. Hoffentlich haben diese die gewünschte Wirkung." Ähnlich fällt die Antwort auf eine Anfrage von Jeffrey Amherst, dem Befehlshaber der britischen Streitkräfte in New York, aus: "Ihr tut gut daran, die Indianer mit Decken zu verseuchen, aber auch jedes andere Mittel anzuwenden, das dazu dient, diese abscheuliche Rasse auszurotten."

Amitav Ghosh, "Der Fluch der Muskatnuss. Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr". € 28,80 / 334 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2023

Fatale Entwicklungslinien

Fatal sind die Entwicklungslinien, die Ghosh aus der Kolonialzeit bis in die Gegenwart verfolgt. So zeigt er etwa die Logistic Cities des Containerhandels, die sich außerhalb jeder Rechtsstaatlichkeit befinden, als Abkömmlinge der Sklavenforts. Er benützt den Begriff "Terraforming" aus der Science-Fiction-Literatur, um zu verdeutlichen, wie durch den Bau von Staudämmen die Nahrungsquellen der indigenen Gemeinschaften zerstört und ihnen damit die Lebensgrundlagen entzogen wurden. In derselben Weise würden auch heute die Flüchtenden die planetare Krise als Krieg erfahren. Durch steigende Meeresspiegel, Flutkatastrophen und Wüstenbildung werden sie vertrieben.

Am Ende gibt Ghosh einen optimistischen Ausblick. Er vertraue auf die Fähigkeit des Menschen zur Empathie und zum Erzählen von Geschichten. Überzeugend ist dieser Optimismus allerdings nicht. Denn von Empathie ist in den Ereignissen, die Ghosh schildert, kaum etwas zu spüren. (Ruth Renée Reif, 19.11.2023)