Feuchtenbergers durchkomponiertes Comicwerk bietet eine unverbrauchte Betrachtung deutscher Geschichte wie unserer durcheinandergeratenen Gegenwart und ist ein faszinierendes wie irritierendes visuelles Abenteuer mit großer Sogwirkung.
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Junge Frauen waten aus dem Meer – oder ist es ein See? – auf die Betrachter zu. Was tragen sie in ihren Händen, auf ihren Schultern? Sind das Frauenköpfe? Ob sich unter den triefenden Haarknäueln – oder sind es Weidenruten, ist es Seetang? – auch Köpfe verbergen, lässt sich nur mutmaßen. Anke Feuchtenbergers Zeichnungen sind so anschaulich, wie sie oft rätselhaft sind – und von schauriger Schönheit. Das Bild ist das Eröffnungspanel einer Episode, in der sich später die kleine Kerstin mit dem "Kuckucksruf", den ihr Opi Grund beigebracht hat, dem See nähert. Damit beschwört sie "die große Frau", die aus dem See auftauchen und "das Wasser mit Weidenruten" peitschen wird. Die Übergänge zwischen Realität und Vorstellung oder Traum erwischen die Leser unangekündigt.

Ein gutes Jahrzehnt hat die Autorin an dem Comic Genossin Kuckuck – Ein deutsches Tier im deutschen Wald gearbeitet. Die Grande Dame der deutschen Comic-Kunst legt mit ihrem autobiografisch grundierten, grafischen Erzählwerk ein Opus magnum vor, das sich auf eine bisher wohl noch nie gesehene Art zeichnerisch der Geschichte Deutschlands und insbesondere der DDR annimmt.

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Facettenreiche Feministin

Seit 30 Jahren prägt die Künstlerin die deutschsprachige und internationale Comic-Szene mit Werken wie Die Hure H (Text von Katrin de Vries), Das Haus, Die Spaziergängerin, Der Spalt, jeweils in ganz unterschiedlichen Formaten. Begonnen hatte Feuchtenberger, 1963 in Berlin (DDR) geboren und teils in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, wo sie neben Hamburg inzwischen wieder lebt, mit Plakatkunst. Mit ihrem Hintergrund aus anderen Gattungen wie Grafik, Schriftzeichen, Bilderhauerei, zu dem sich ihre anhaltende Experimentierlust gesellt, hat sie den Comic unschätzbar bereichert und seine Grenzen wiederholt ausgeweitet.

Anlässlich ihres 60. Geburtstages hat das Comicfestival Hamburg im September eine Ausstellung mit Symposium für die Künstlerin und feministische Vorreiterin ausgerichtet, die außerdem seit 25 Jahren eine Professur an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg innehat.

Umrahmt wird die Würdigung von zwei eindrucksvollen Hommagen in Buchform, Die Königin Vontjanze – Kleiner Atlas zum Werk von Anke Feuchtenberger und Tandem – In der Lehre bei Anke Feuchtenberger, die zum einen mit vielen Blickwinkeln in das facettenreiche Werk der Zeichnerin einführen, zum anderen aus Sicht ehemaliger Studierender (Barbara Yelin, Birgit Weyhe, Magdalena Kaszuba oder Michael Jordan u. v. a. m.) ihre Lernerfahrungen mitteilen und mit Zeichnungen dokumentieren. Eine flammende Replik auf das Selbstverständnis einer Professorin, die sich selbst als "Hilfskraft" und "Gesprächspartnerin" sieht, die "zur Stelle [ist], wenn es beim Scheitern eines Experimentes an der Erfahrung fehlt, wie man das Scheitern für sich fruchtbar machen kann". In Wien sind gegenwärtig Zeichnungen Feuchtenbergers in der gelungenen Comic-Ausstellung Gewalt erzählen im Freud-Museum zu sehen.

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Fruchtbares Scheitern

Die Idee, das Scheitern für sich fruchtbar zu machen, erinnert an eine essayistische Tradition, in der sich der künstlerische Versuch überraschen lässt, weil das Ergebnis von vornherein offen ist. Diese Offenheit für Überraschungen mag auch bei der Lektüre von Genossin Kuckuck hilfreich sein.

Der Comic spielt in einem ostdeutschen Dorf von den 1960er-Jahren der DDR bis deutlich über den Mauerfall hinaus. Kerstin wächst bei ihrer Großmutter, Russischlehrerin, und Tante Rosi auf. Ihre Eltern sind angeblich Helden im Dienste des Sozialismus – oder sind sie in den Westen getürmt? –, für ihre Tochter sind sie nicht da.

Neben Kerstins Bruder Jochen spielt Effi, ihre Freundin, die ins Heim gesteckt wird und ihr Briefe schreibt, eine wichtige Rolle. Rosis Mann, Waidgenosse Mettel, bekommt gelegentlich Besuch von sowjetischen Jagdfreunden. Kerstin wird später "Stoffzeichnerin", die "den ganz großen Stoff zeichnen" will. Doch die Fülle von Themen und Motiven reicht von Kinderschwüren und bösen Spielen, von Heimaufenthalten und schwarzer Pädagogik, von Dorffesten und späten Racheakten bis hin zu Landwirtschaft und Schädlingsbekämpfung. Oftmals spielt Gewalt mit hinein, bis hin zu Tierquälereien, sexuellen Übergriffen, Missbrauch und den (ebenfalls sexuellen) Gewaltakten der "Befreier", über die 40 Jahre lang nicht gesprochen werden durfte.

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Metamorphosen als Motor

"Ich versuche, die Erzählung aus der Zeichnung selbst zu entwickeln." Zum Außergewöhnlichsten an Feuchtenbergers Erzählkunst gehört die Art und Weise, wie die Zeichnung zum Motor der Geschichte wird und wie sich Erinnerung in Bildern vollzieht. Umgekehrt ist die Zeichnung jeweils komprimierte, verdichtete Erinnerung. Das unterläuft den linearen Duktus der Erzählung, der grafische Roman ist zugleich grafischer Essay und Traktat, der die Versenkung einfordert. Feuchtenbergers Poetik entspinnt sich in einem dialektischen Widerspiel aus Sprüngen und Innehalten und gründet in der Kraft der Imagination. Unvermittelt (ent)gleitet und entführt die Erzählung in traumhafte Sequenzen und in surreale Bilder, die dennoch in der Realität verwurzelt bleiben.

Plötzliche Verwandlungen ereignen sich vor den Augen des Betrachters, dann wechseln die Schwarz-Weiß-Zeichnungen aus Bleistift, gelegentlich aus Kohle und Grafitstaub zu feinen Federstrichen aus roter Tusche. In der (rettenden) Fantasie der kleinen Kerstin werden etwa die Figuren einer Vase zum Leben erweckt, in der sich Außen- und Innenwelt vermischen. Metamorphosen treiben die Erzählung voran. Sie treten gewitzt in vielerlei Formen in Erscheinung, sind mit dem Heranwachsen als vielschichtigem Verwandlungsprozess und dem Wachsen engstens verwoben. Einzelne Figuren tragen zwischendurch Masken oder Tierköpfe, anstelle ihrer Köpfe wuchern korallenähnliche Geschwülste, auch Menschen in Tiergestalt treten auf. Insgesamt spielen Tiere und Pflanzen, insbesondere Weichtiere wie Schnecken, Zwischenwesen wie Pilze und Hausschimmel oder Unkraut, im Kosmos der Zeichnerin eine herausragende Rolle.

Der Blick auf sie kommt allerdings eher aus der Zukunft denn aus der Vergangenheit, er spiegelt unseren zweifelhaften Umgang mit unserer Natur. Deren Ambiguität zwischen Ekel und Anmut, ihre schleimigen Wucherungen, ihre Zwitterhaftigkeit, ihr Hermaphrodismus und ihre Allgegenwart bieten der Autorin Anlass, um Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und verwerfen.

Anke Feuchtenberger, "Genossin Kuckuck". € 44,– / 448 Seiten. Reprodukt, Berlin 2023
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Die Königin Vontjanze. Kleiner Atlas zum Werk von Anke Feuchtenberger. Hg. von Andreas Stuhlmann und Ole Frahm. Textem Verlag, Hamburg 2023
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TANDEM. In der Lehre bei Anke Feuchtenberger / In Class with Anke Feuchtenberger. MamiVerlag, Hamburg 2023
MamiVerlag

Unverbrauchte Betrachung

Schließlich gerät die scheinbar unumstößliche Realität auch auf anderen Ebenen ins Wanken. Untergründe und Abgründe klaffen auseinander. Während des Zeltfests auf dem zugefrorenen See bricht das Eis auf. Als Jochen den Kuckucksruf probt, verliert er den Boden unter den Füßen: "Der Wald ist umgekippt und schwimmt (…) auf ihn zu." Und Kerstin fragt sich während eines Spaziergangs, ob der Wald denn "unterkellert" sei? In ihrer Versenkung erblickt sie im Untergrund ihr früheres Ich.

Gegen Ende des grafischen Romans tritt im Altersheim, das "auf den Fundamenten der Schweineställe" errichtet wurde, Jauche zutage. Während im Moorbad ein orgiastisches Chaos ausbricht, quetschen Schweine ihre Rüssel durch die Fenster. Kehrt die Geschichte zurück? (Martin Reiterer, 19.11.2023)