Herr F. ist mit seiner Frau in den frühen 80er-Jahren aus der Türkei nach Wien gekommen, er hat als Dreher, ein klassischer Lehrberuf in der Werkzeugindustrie, gearbeitet und sich in Wien immer wohlgefühlt. Seine Kinder sind in Wien geboren, der Bezug zur Türkei ist immer stark gewesen. Vor einigen Jahren ist bei Herrn F. Demenz diagnostiziert worden. Anfänglich konnte seine Frau, gemeinsam mit den inzwischen erwachsenen Kindern, Herrn F. gut begleiten, mit zunehmender Demenz wurde die Belastung der Familie größer. Pflege und Betreuung zu Hause zuzulassen kam für Frau F. nicht infrage, in ihrer Lebensrealität und entsprechend ihrer Erziehung war alleine die (Groß-)Familie für das Wohl des erkrankten Angehörigen zuständig. Gemeinsam mit dem Hausarzt organisierte die älteste Tochter, zunächst ohne Wissen von Frau F., einen Termin zur Beratung im Tageszentrum.

Zwei Personen öffnen einen Koffer
In der Stadt Heilbronn wurde ein eigenes Format für an Demenz betroffene Menschen mit Migrationshinterund entwickelt: Interkulturelle Demenzkoffer enthalten etwaBildmaterial der Heimat, Filme, Rezepte, Wörterbücher sowie Listen mit Übersetzungen zu verschiedensten Themen und den passenden Kalender mit den Feiertagen.
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Beim Erstgespräch im Tageszentrum wurde schnell klar, dass Herr F. die deutsche Sprache zwar noch verstehen, aber kaum mehr sprechen konnte. Immer wieder vermischten sich die deutsche und türkische Sprache. Die Verständigung war zunächst schwierig, wurde mit zunehmender Vertrautheit zwischen Herrn F. und den Teammitgliedern jedoch besser. Wörter und Gesten von Herrn F. konnten immer besser gedeutet und interpretiert werden, eine (Betreuungs-)Beziehung konnte entstehen.

Parallel zur Begleitung und Betreuung von Herrn F. war die Beratung und Begleitung der erwachsenen Kinder zentral. Lange Zeit war es den Kindern nicht möglich, die Demenz ihres Vaters anzunehmen und sich entsprechend darauf einzulassen. In vielen Gesprächen konnte eine Annäherung an die Demenz stattfinden, das Anerkennen der kulturellen Unterschiede einerseits und der (auch gesetzlichen) Pflege- und Betreuungsrealität andererseits war sowohl für Familie F. als auch für das Team des Tageszentrums nicht einfach. Die Informationen der Familie zur Biografie und zu den Ritualen, die Herrn F. wichtig waren, waren für das Pflege- und Betreuungsteam unerlässliche Ressourcen im Umgang. Mittlerweile ist Herr F. seit mehr als einem Jahr im Tageszentrum und gut angekommen.

Im Fortschritt der Demenz wird jedoch die sprachliche Barriere zwischen dem Team und Herrn F. größer werden, Vorbereitung auf die Begleitung in seinen spirituellen und sozialen Bedürfnissen wird immer wichtiger. Das Wissen um Validation,Total Pain und der Verlust der Wurzeln sind für das Team in der Begleitung von Herrn F. zentral. Validation stellt eine von Naomi Feil entwickelte Methode und, weiter gefasst, auch eine Haltung in der Begegnung mit Menschen mit Demenz dar. Das Total-Pain-Modell wurde von Dame Cicely Saunders entwickelt und zeigt, dass Leid und Schmerz immer mehr Dimensionen als die körperliche Dimension umfasst. So sind die spirituelle, die soziale und die psychologische Dimension massgeblich für das Erleben des Leids.

Herausforderungen auf mehreren Ebenen

In Österreich leben etwa 229.400 Menschen mit Migrationshintergrund, die 65 Jahre alt oder älter sind (Stand 2021, EU-Atlas: Demenz & Migration | Robert Bosch Stiftung). Von diesen Menschen weisen schätzungsweise 15.800 eine Form von Demenz auf. Die am stärksten betroffenen Gruppen von Zugewanderten stammt aus Deutschland (circa 3300), Serbien (circa 2100), Bosnien und Herzegowina (circa 1400), der Tschechischen Republik (circa 1400) und der Türkei (circa 1000). 2021 waren 12.500 nichtdeutschmuttersprachliche Menschen von einer Demenz betroffen. Die Tendenz ist stark steigend. Daraus erwachsen etliche Herausforderungen.

Olivia Dibelius (Pflegewissenschafterin und Gerontologin, seit 1997 Professorin für Pflegewissenschaft im Studiengang Pflegemanagement an der Evangelischen Akademie zu Berlin) schrieb dazu bereits 2015: "Demenziell erkrankte Migrantinnen und Migranten sind dem Dreifachrisiko Alter, Demenz und Migra­tion ausgesetzt. Auch ihre pflegenden Angehörigen sind überdurchschnitt­lich belastet. Migrationsbedingte Hürden wie zum Beispiel mangelnde Deutschkenntnisse verhindern häufig den Zugang zu den Regelleistungen des deutschen Gesundheitssystems. Damit sind sie häufiger von frühzeitiger Pflegebedürftigkeit, sozialer Isolation und Verar­mung betroffen. Obwohl es zunehmend Beratungsstellen für demenziell erkrankte Menschen gibt, mangelt es an Angeboten für diese spezielle Personengruppe. Insofern muss nach wie vor die Versorgungslage dieser wachsenden Personengruppe als sehr prekär eingestuft werden."

Obwohl das Thema Demenz und Migration ein immer dringlicheres wird, gibt es derzeit keine annähernd flächendeckende Versorgungs- oder Beratungsstruktur in Österreich. Spezialisierte Angebote zu Begleitung, Betreuung und Pflege von Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz gibt es nur punktuell, zum Beispiel in der transkulturellen Ambulanz im AKH oder TERRA – Beratungsstelle für ältere Migrant:innen zu den Themen Gesundheit und Migration. Ein wichtiger Aspekt in der Diskussion um die Begleitung und Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz ist der hohe Stellenwert der Familie und der jeweiligen Community. In vielen Familien sind nach wie vor die (erwachsenen) Kinder für die Betreuung und Pflege der Eltern zuständig, Demenz gilt hier oftmals als Strafe oder Schande, die nicht nach außen hin sichtbar sein darf.

Wie Pflege angepasst werden kann

Pflegende Angehörige von Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz müssen dementsprechend nicht nur mit der Verantwortung als Pflegeperson zurechtkommen, was bereits für eine Person ohne Migrationshintergrund äußerst anspruchsvoll ist, sondern sind darüber hinaus weiteren spezifischen Problemen, Belastungen und Versorgungsbarrieren ausgesetzt. Community-Education kann hier ansetzen und versuchen, Stigmata aufzuweichen. Wissen um die Demenzerkrankungen, Auswirkungen und Belastungen muss, genauso wie Beratung und Begleitung der An- und Zugehörigen, in den jeweiligen Sprachen und unter Beachtung der kulturellen Einbettung vermittelt und zur Verfügung gestellt werden. Elisabeth Hofmann-Wellenhof beschreibt in ihrer 2019 veröffentlichten Masterarbeit "Vergessen im fremden Land: Wie können demenzkranke Migranten und Migrantinnen in Österreich sinnvoll unterstützt werden?" zwei "Best Practice"-Beispiele aus Deutschland:

Beide Beispiele zeigen, dass es möglich ist, bestehende Konzepte zur Migration und Multikulturalität im Gesundheitswesen nachhaltig umzusetzen. Dazu müssen die Themen Migration, Diversität und Total Pain bei Menschen mit Demenz fixer und selbstverständlicher, statt wie derzeit ein optionaler Teil der Grundausbildung aller Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen sein – vom Entlassungsmanagement über die Beratungsstellen, die mobilen Alltagsbegleiter:innen, Heimhelfer:innen, Pflegemitarbeiter:innen bis hin zu den Ärzt:innen. Bund, Länder, Gemeinden müssen sich dem Thema Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz widmen. Nur so können wir uns einer Gesellschaft annähern, in der alle begleitet werden können. Wir sind die Gesellschaft. Demenz geht uns alle an. (Marianne Buchegger, 28.11.2023)