Zugegeben, sehr zahlreich sind die Gelbwesten an ihrem fünften Jahrestag nirgends mehr in Frankreich. Das Lokalblatt Républicain Lot-et-Garonne hat im Dorf Samazan, gelegen zwischen Bordeaux und Toulouse, ein Häufchen Unbeugsamer aufgestöbert und auf einem Kreisverkehr im Bild verewigt. Einer von ihnen, André, sagte: "Es braucht nur ein auslösendes Moment, und alles beginnt von vorne."

Alles? Am 17. November 2018 gingen in Frankreich mehrere Hunderttausend Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Sie verfügten über keine Organisation, keinen Internetauftritt, keinen Namen – "Gelbwesten" nannte man sie, weil sie als Erkennungszeichen eine jener Leuchtwesten trugen, die in französischen Autos seit Jahren verpflichtend sind – und damit keinen Cent kosten. Der Protest richtete sich gegen den Spritpreis, den Premierminister Edouard Philippe erhöht hatte, um die Einkünfte für ökologische Zwecke zu verwenden.

Plakate brennen und ein Mann steht in gelber Weste und einer Macron-Maske auf der Straße.
Vor allem gegen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war der Zorn der Gelbwesten gerichtet.
AFP/ZAKARIA ABDELKAFI

Wer Gelb trägt, wohnt außerhalb

Die Gelbwesten vereinen vor allem Bewohner ärmerer Landstriche oder Stadtränder. Sie gehören allerdings nicht zu den Ärmsten der Armen. Die meisten arbeiten, sogar hart, aber zu mickrigen Löhnen. Soziologen sprechen von der "verarmenden unteren Mittelschicht". Sie besetzten im Herbst 2018 auf Anhieb 2.000 Kreisverkehre.

Am 17. November gingen 300.000 Menschen auf die Straße. Niemand hatte sie kommen sehen, am allerwenigsten Emmanuel Macrons Regierung aus Pariser Technokraten. Zur Rücknahme der Benzinpreiserhöhung kamen alsbald weitere Forderungen: Erhöhung des Mindestlohns, Steuersenkungen, Einführung eines Initiativrechts für Volksabstimmungen (RIC) und noch vieles mehr.

Schwere Ausschreitungen

Im Dezember 2018 nahm Philippe die Ökosteuer zurück. Zu spät: der Geist war aus der Flasche. An jedem Samstag – unter der Woche arbeiten sie schließlich – gingen die Gelbwesten nun auf die Straße. Bei den Demos schwangen sie die französische Trikolore genauso wie Che-Guevara-Fahnen – Patriotismus und Revolution sind in Frankreich kein Gegensatz. Die Krawalle wurden immer heftiger.

Auf der Prachtstraße Champs-Elysées, die für Staatsmacht und Luxusläden steht, gingen Schaufenster zu Bruch; in umliegenden Vierteln kam es zu schweren Krawallen mit Barrikadenkämpfen, Steinwürfen, Brandschatzung in Bankfilialen, Plünderung von Elektronikläden. Die Polizei konterte mit Wasserwerfern, Tränengas, Blendgaranten und Gummigeschoßen, die zahllose Demonstranten verletzten. 23 von ihnen wurden eines Auges beraubt. Elf Verfahren gegen Polizeischützen laufen.

Schwere Ausschreitungen bei den Protesten. Absperrgitter liegen am Boden, Plakate brennen.
Im Zuge der Proteste uferte die Gewalt aus, die Polizei musste mit allen Kräften auffahren, die sie hatte, um die Lage in den Griff zu bekommen.
AFP/FRANCOIS GUILLOT

Frankreich erzitterte in seinen Grundfesten, die Gewalt artete aus. Die Polizei mobilisierte ihre letzten Kräfte: An einem Dezembersamstag waren die CRS-Einheiten 69.000 Mann stark, zahlreicher als die 66.000 Demonstranten. Innenminister Christophe Castaner nannte sie "Barbaren". Der Philosoph Bernard-Henri Lévy sprach von "Braunhemden", weil sie gelegentlich auch antisemitische Züge offenbarten. Ein Kollektiv mit Kinostars wie Juliette Binoche und Emmanuelle Béart unterstützte dagegen die aus dem Nichts gekommene Bürgerbewegung der "kleinen Leute": Indem sich Macron weigere, die von ihm selber abgeschaffte Vermögenssteuer wiedereinzuführen, verteidige er die Interessen weniger.

Politische Vereinnahmung

Dann begingen die Gelbwesten den Fehler, sich politisch vereinnahmen zu lassen. Was heute gerade im Nahostkonflikt ein Merkmal der jüngeren französischen Politik ist, zeigte sich erstmals in diesen Sozialprotesten: rechts außen um Marine Le Pen wie auch links außen um Jean-Luc Mélenchon beherrschten die gesamte politische Debatte, indem sie sich hinter die Gelbwesten stellten. Diese verloren dagegen an Boden, weil viele von ihnen die Gewalt ablehnten und lieber zu Hause blieben, als neben dem "Schwarzen Block" aufzutreten.

Macron wirkte zuerst wie traumatisiert, ja gelähmt, fand dann aber ein Gegenmittel: Bei einem wohl inszenierten Besuch im Normandie-Dorf Bourgtheroulde rief er eine "große nationale Debatte" aus – und gab ihr mit einem siebenstündigen Soloauftritt ohne Pause gleich die Richtung vor. Er setzte eine Bürgerkonvention ein und versprach, deren Vorschläge und Forderungen "ohne Filter" zu übernehmen.

Fast ganz Frankreich bekundete 2018 Solidarität mit den Gelbwesten. Die Europawahl 2019 wurde dennoch zu einem totalen Flop.
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Erschöpfte Gelbwesten

Damit hatte der Präsident der Protestbewegung die Spitze genommen. Monate später zeigte sich, dass Macron die sozialen und ökologischen Forderungen keineswegs unverändert übernahm – aber da waren die erschöpften Gelbwesten bereits keine Gefahr mehr für die Staatsführung. Zumal sie selber nicht wussten, wie sie weitermachen sollten. Einige Wortführer, die über die Monate durch die Medien bekannt geworden waren, obwohl sie keine offizielle Funktion ausübten, gingen in die Politik.

Die Luft war draußen, bei der Europawahl im Mai 2019 erzielten drei Gelbwesten-Listen zusammen nicht einmal 0,5 Prozent der Stimmen. Das erstaunt, wenn man bedenkt, dass ein Jahr zuvor in Umfragen 84 Prozent der Franzosen und Französinnen ihre Solidarität mit den Gelbwesten bekundet hatten. Deren politische Unerfahrenheit war aber so groß wie ihre wirtschaftliche Unbedarftheit – in TV-Diskussionen widersprachen sie sich bisweilen im selben Satz, wenn sie eine Steuersenkung für sich, aber eine Steuererhöhung für andere Kategorien verlangten.

Erst spontan, dann naiv

So verkehrte sich die erfrischende Spontanität der Anfänge bald in eine politische Naivität. Einzelne Gelbwesten liefen zu den Verschwörungstheoretikern der Covid-Jahre über oder fielen den aufkommenden Fake News anheim: Ein amerikanischer Grassroots-Aktivist konnte Ende 2018 über Twitter unwidersprochen behaupten, die Gelbwesten würden in Paris "We want Trump" schreien. Bei den Gelbwesten war niemand da, um die Fälschung des Kurzvideos als solche zu entlarven.

Der Niedergang der Gelbwesten ist frappant, weil die tieferen Ursachen für den Volksaufstand keineswegs beseitigt sind. Die Forderung nach mehr Volksabstimmungen wurde nicht erfüllt. Für Macron sind Referenden so gefährlich wie die Gelbwesten. Einer ihrer Forderungen, der Auflösung der vielerorts verhassten Eliteverwaltungsschule ENA, ist Macron 2021 nachgekommen. Aber nur, um sie durch ein Gebilde namens "Institut national du service public" (INSP) zu ersetzen. Der Lehrplan ist identisch mit dem der ENA.

Von der Bewegung der Gelbwesten ist de facto nichts übrig, doch der soziale Frieden in Frankreich steht auf wackeligen Beinen. Es könnte jederzeit wieder losgehen.
AFP/PASCAL GUYOT

Es brodelt

Akuter denn je bleibt die soziale Unrast in den Gelbwesten-Zonen. Die Benzinpreise, die 2018 auf dem Gipfel der Proteste bei 1,50 Euro lagen, erreichen derzeit fast zwei Euro. Die Inflation im Zuge der Pandemie und des Krieges in der Ukraine hat (laut der Beobachtungsstelle für Ungleichheit) dazu geführt, dass in den marginalisierten Gebieten Frankreichs 30,7 Prozent der Einwohner unter der Armutsgrenze leben. Und der Krieg in Gaza droht die Ölpreise bald weiter anzukurbeln.

Der Demoskop Jérôme Fourquet, der die Gelbwesten über die letzten fünf Jahre aus nächster Nähe verfolgt hat, führt ihren Einbruch darauf zurück, dass die Bewegung völlig unorganisiert war. Das habe sie gründlicher erledigt als die Covid-Zeit ab 2019. Aber ihr früherer Nachteil, der spontane Charakter, könne sie auch wieder zurückbringen, jetzt, da die Preise immer weiter steigen. "Der Brennstoff für eine neue soziale Explosion ist immer noch da", meint Fourquet. "Es fehlt nur noch ein Funke." (Stefan Brändle aus Paris, 17.11.2023)