Querdenker-Demonstration
Das Erstarken von Verschwörungsmythen in der Corona-Pandemie hat der Frage, was Wissenschaft so besonders macht, neue Aktualität verliehen.
IMAGO/Jochen Tack

Das Jahr 1919 sollte sich als Zäsur im Leben von Karl Popper entpuppen. Im Sommer dieses Jahres wurde er 17 Jahre alt, kurz zuvor ereigneten sich zwei Begebenheiten, die sein Leben für immer prägen sollten. Eine Sonnenfinsternis und ein versuchter Putsch hatten einen nachhaltigen Einfluss auf den gebürtigen Wiener, der bis heute eine gewichtige Rolle dabei spielt, wenn wir uns darüber klarwerden wollen, welche Bedeutung Wissenschaft in unserer Welt hat.

Als angehender Lehrer war der junge Karl Popper von sozialistischen Idealen angetan, im Herbst 1918 schloss er sich den Kommunisten an. Doch ein missglückter Aufstand am 15. Juni 1919, der in einem Blutbad mit 20 Toten endete, verstörte Popper sehr. Einerseits war er vom brutalen Vorgehen der Polizei entsetzt, die in der Wiener Hörlgasse das Feuer auf die Demonstranten eröffnete.

"An Unglück mitschuldig"

Noch nachdenklicher stimmte Popper seine eigene Beteiligung, denn er fühlte sich "als Marxist zumindest prinzipiell an dem Unglück mitschuldig", wie er später in seiner Autobiografie schrieb. "Denn die marxistische Theorie behauptet, dass wir umso schneller zum Sozialismus kommen würden, je mehr sich der Klassenkampf verschärft." Dass die Kommunisten zivile Opfer bewusst in Kauf nahmen, um marxistischen Idealen nachzueifern, erschütterte Popper zutiefst. So markierte der 15. Juni 1919 zugleich das Ende seiner Sympathien für den Marxismus.

Karl Popper
Für den später weltberühmten Philosophen Karl Popper sollte das Jahr 1919 richtungsweisend für seine weitere Karriere werden.
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Und dann war da die Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919, womöglich die bekannteste Sonnenfinsternis des 20. Jahrhunderts. Albert Einstein hatte wenige Jahre zuvor seine allgemeine Relativitätstheorie vollendet – ein epochaler Durchbruch, der ihm in Fachkreisen eine gewisse Bekanntheit einbrachte. Der Öffentlichkeit war Einstein allerdings noch kaum ein Begriff, das sollte sich aber mit der Sonnenfinsternis 1919 schlagartig ändern.

Spektakuläre Sonnenfinsternis

Dass der Neumond für einige Minuten vor die Sonne tritt, ist ja an sich schon ein Spektakel. Bei dieser Sonnenfinsternis interessierten sich die Astronomen aber für einen anderen Effekt. Einsteins Relativitätstheorie sagte vorher, dass große Massen wie jene der Sonne den Raum krümmen. Das Licht von fernen Sternen, das an der Sonne vorbeiläuft, wird durch die Raumkrümmung etwas abgelenkt. Die Sonnenfinsternis von 1919 ermöglichte den ersten Test von Einsteins Vorhersage: Indem die Sonne vom Mond verdunkelt wurde, konnte das Sternenlicht dahinter beobachtet werden – genau mit jenen Positionen, die Einstein vorhergesagt hatte.

Karl Popper beeindruckte diese Leistung enorm. Kaum hatte er sich vom Marxismus abgewendet, machte er sich immer mehr mit Einsteins Theorie vertraut. Insbesondere imponierte ihm Einsteins Einstellung, der bereit war, sein wissenschaftliches Werk zu verwerfen, wenn es durch empirische Belege widerlegt wird. Etliche Jahre später entwickelte Popper daraus den Falsifikationismus. Um Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden, schlug er das Kriterium der Falsifizierbarkeit vor: Eine empirisch-wissenschaftliche Theorie muss durch Experimente widerlegbar sein, sonst kann es sich nicht um Wissenschaft handeln.

Ungelöstes Demarkationsproblem

Mehr als 100 Jahre später kiefeln Philosophinnen und Philosophen immer noch am sogenannten Demarkationsproblem, bei dem es darum geht, ein Kriterium zu finden, mit dem sich Wissenschaft von Pseudowissenschaft unterscheiden lässt. Das Demarkationsproblem steht gewissermaßen im Zentrum der Wissenschaftsphilosophie, und es ist einigermaßen unbefriedigend für das Feld, dass auf diese zentrale Frage seit mehr als 100 Jahren keine Antwort gegeben werden kann. Der im Vorjahr verstorbene US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Larry Laudan zog die Konsequenz, dass das Demarkationsproblem womöglich ein Problem ist, für das es keine Lösung gibt. Zumindest damit hat Laudan eine mehrheitsfähige Position in der Wissenschaftsphilosophie artikuliert.

Das Demarkationsproblem ist allerdings nicht nur eine relevante akademische Frage, sondern hat auch immense gesellschaftliche und politische Bedeutung. Noch schwerer als das Demarkationsproblem selbst wiegt für den US-Wissenschaftsphilosophen Lee McIntyre von der Universität Boston die dahinterliegende Frage: Was ist überhaupt so besonders an Wissenschaft? Warum hat sie eine besondere erkenntnistheoretische Autorität? Warum gibt es einen breiten Konsens zu glauben, was Wissenschafter und Wissenschafterinnen herausfinden? "Das Problem bei dieser Frage ist, dass sie zunächst so aussieht, als könnte man sie schnell beantworten, bis man versucht, das wirklich gründlich zu tun", sagt McIntyre.

Hasserfüllte Attacken

Schon als Teenager hat sich McIntyre in die Schriften von Karl Popper vertieft, mit 19 Jahren schrieb er ihm einen Brief – und Poppers Antwort an den jungen Mann hängt heute gerahmt in seinem Arbeitszimmer. Ihn treiben ähnliche Fragen um, die Popper im Laufe seiner Karriere beschäftigt haben. "Der Grund, warum ich glaube, dass es so wichtig ist, die Frage zu lösen, warum Wissenschaft so besonders ist, ist folgender: Wenn wir es nicht tun, bedeutet das, dass alle, die die Wissenschaft bedrohen und angreifen, sich dazu berechtigt fühlen und zu Recht behaupten können: 'Ihr wisst ja nicht einmal, was so besonders an Wissenschaft ist.'" Solange die Frage, was die Wissenschaft besonders macht, nicht gelöst ist, könnten Anhänger und Anhängerinnen von Astrologie, Wünschelruten oder Tarotkarten sagen: "Wie können Sie sagen, dass das keine Wissenschaft ist, wenn Sie mir nicht einmal sagen können, was Wissenschaft ist?", sagt McIntyre. "Dagegen müssen wir uns wehren."

Seit es Wissenschaft gibt, hatte sie sowohl Freunde wie auch Feinde. Dass Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aufgrund ihrer Arbeit nach dem Leben getrachtet wird, war bereits vor Jahrhunderten der Fall. Insbesondere im Falle der Klimaforschung und in der Corona-Pandemie erfuhren die hasserfüllten Attacken auf Wissenschafter und Wissenschafterinnen neuen Aufwind: Morddrohungen und Hassnachrichten gehen bei zahlreichen exponierten Forschenden regelmäßig ein.

Komplementärer Ansatz

Ein neueres Phänomen ist, dass Populistinnen und Populisten gezielt mit Wissenschaftsfeindlichkeit Stimmung machen. Auch damit beschäftigt sich McIntyre in seinen Schriften. "Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten, wenn es um unser Verständnis von Wissenschaftlichkeit geht", lautet der erste Satz von McIntyres Buch "The Scientific Attitude" (MIT Press, 2019), das auf Deutsch unter dem Titel "Wir lieben Wissenschaft" (Springer, 2020) erschienen ist. Bereits damals hat sich beispielsweise der frühere US-Präsident Donald Trump mit klimaleugnerischen Aussagen hervorgetan. In der Pandemie sind wissenschaftsfeindliche Töne auch von hiesigen Politikern angeschlagen worden.

In der Geschichte der Wissenschaftsphilosophie wurde oft versucht, die Besonderheiten von Wissenschaft zu verstehen, indem man wissenschaftliche Sternstunden analysierte. Poppers intensive Beschäftigung mit Einsteins Relativitätstheorie war beispielgebend für diesen Ansatz. McIntyre verfolgt hingegen einen komplementären Ansatz. Er nimmt etwa die Argumentationen von Anhängern von Verschwörungsmythen in den Blick, er besuchte Konferenzen von Menschen, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, er führte Gespräche mit überzeugten Impfgegnern und anderen Menschen, die die Wissenschaft als ihren Feind sehen, und entwickelte daraus ein Verständnis dafür, was so besonders an Wissenschaft ist.

Die Welt als Scheibe

Die Vorstellung, dass die Welt keine Kugel, sondern eine Scheibe ist, scheint so absurd, dass die Anhänger der Theorie selbst unter Menschen, die Verschwörungsmythen verbreiten, eine Außenseiterrolle einnehmen. Was lässt sich aus der Theorie der Scheiben-Welt also über Wissenschaft lernen?

"Wissenschaftern liegt so viel an Beweisen, dass sie bereit sind, ihre Meinung angesichts von neuen Beweisen zu ändern", sagt McIntyre. Anknüpfend an Popper hat er das Konzept der "wissenschaftlichen Haltung" als zentrales Erkennungsmerkmal von Wissenschaft erkannt. Es sei weniger eine genau definierbare Methode, die Wissenschaft auszeichnet, sondern die Haltung, mit der Wissenschafter an ihre Arbeit herangehen.

Nobles Unterfangen

"Wenn man keine Beweise hat oder wenn die Beweise sagen, dass man falschliegt, dann ist die Theorie erledigt – das würde jeder Wissenschafter anerkennen, Pseudowissenschafter aber nicht", sagt McIntyre, "das ist das wesentliche Merkmal, das Wissenschaft zu Wissenschaft macht." Auch aus diesem Grund sei Ungewissheit keine Schwäche der Wissenschaft, sondern im Gegenteil ihre Stärke.

Schon Popper erkannte die Haltung von Wissenschaftern als wesentliches Merkmal von Wissenschaft. Die Offenheit, mit der beispielsweise Einstein neue empirische Befunde aufnahm und gegebenenfalls seine Ansichten verwerfen musste, stand für Popper in krassem Gegensatz zum dogmatischen Denken von Marxisten, die vielmehr nach Bestätigung suchten denn nach Widerlegung.

Die unentwegte Suche nach Belegen für die eigene Fehlbarkeit macht die Wissenschaft auch für McIntyre zu einem noblen Unterfangen. "Für mich ist Wissenschaft die größte Erfindung des menschlichen Geistes in der Geschichte unserer Spezies, denn sie bringt so viele tugendhafte Eigenschaften hervor." (Tanja Traxler, 18.11.2023)