Das böse Internet
Internet, 2000, Spaß, Meme Collage: derStandard/Friesenbichler Foto: Istock (2)
STANDARD

Es ist fast lächerlich, wie sehr manche Menschen das alte Twitter vermissen. Man spürt das: in regelmäßigen leicht wehmütigen Postings auf X, wie es jetzt heißt, und auf dem Nachfolger Bluesky. Das "alt" hat hier eine Doppelbedeutung: Zum einen steht es für ein Twitter von vor anderthalb Jahren, bevor Elon Musk die Plattform kaufte und auf erratische Weise in einen Sammelplatz von Desinformation und Trollerei verwandelte. Aber es steht oft auch irgendwie für ein anderes Internet. So wie es früher einmal war – oder zumindest so, wie man sich daran erinnert.

Mitte Oktober erschien im Magazin New Yorker ein Artikel mit dem Titel "Why the Internet isn’t fun anymore", warum das Internet keinen Spaß mehr macht. Der Autor Kyle Chayka beschrieb darin das Gefühl, dass sich das Internet trotz immer mehr Contents immer leerer anfühle. Der Umbau von Twitter sei ein Vorbote für die sich anbahnende kommende Onlinewelt. Eine, die einfach nicht mehr so interessant sei wie die vor zehn Jahren. An einer Stelle stellte der Artikel eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist: Wann hatte man das letzte Mal so richtig Spaß im Internet?

Nostalgie-Falle

Viele Menschen sprangen begeistert auf die Artikel an, die meisten in ihren 30ern. Das ist das Problem an solchen Thesen: Oft stellt einem da die eigene Nostalgie eine Falle. Viele Menschen erinnern sich gern an ihre späten Teenager-Jahre und erste Hälfte der 20er, wo sie vieles ausprobiert und sich zum Erwachsenen entwickelt haben. Zufällig fällt auch die goldene Zeit vieler Dinge genau in diese Zeit, sei es Musik oder eben das Internet. Man musste eigentlich gar nicht googeln, um zu wissen, dass der Autor des Artikels im New Yorker ebenfalls Mitte 30 ist.

Springen wir knapp zehn Jahre zurück: Damals war das eben alles noch ein bisschen anders im Internet. Es war völlig normal, täglich etwas auf Facebook zu posten. Instagram war den Windeln noch nicht entwachsen. Artikel von Medien wie Vice und Buzzfeed wurden gleichzeitig geliebt und gehasst. Und wer dort arbeitete, glaubte wirklich, an der Wachablöse der Legacy-Medien zu arbeiten.

Zeit der Unschuld

Eine Sache, die häufig aufkommt, wenn man mit Menschen über diese Zeit spricht, ist, dass alles ein wenig unschuldiger gewesen sei. In der Regierung saßen Langweiler wie Faymann oder Mitterlehner, Flüchtlingskrise und Donald Trump waren noch ein Stück entfernt. Und so fühlte sich eben auch das Internet an. Wer davon einen Eindruck gewinnen will, kann bei Youtube in die Suchleiste "Best of Vine" eingeben. Auf der kurzlebigen Videoplattform (2013–2018) konnte man Sechs-Sekunden-Clips hochladen, was überraschend viel Platz für Storytelling bot. Viele dieser Videos sind kleine Kunstwerke von bizarrer Schönheit, bei denen es gar nicht so einfach ist, zu sagen, was an ihnen eigentlich so lustig ist. Als das Ende von Vine bekannt wurde, trat eine Marketingverantwortliche mit dem Satz vor die Medien, dass sie die Plattform nicht vermissen würde: "It serves no purpose", sie erfülle keinen Zweck. Das war ja genau das Schöne daran.

Vines That Saved the World | Best Vines of All Time
Funny Vines

In dem Artikel im New Yorker wird ein Tech-Redakteur mit einem etwas überraschenden Wunsch zitiert: Wenn er eine Zeitmaschine hätte, würde er gerne das Jahr 2014 eliminieren. Das ist zwar an sich noch eines, das viele als die "gute alte Zeit" des Internets in Erinnerung haben. Aber es seien dort drei Dinge passiert, in denen die wenig glorreiche Zukunft ihre Schatten vorausgeworfen hätte.

Zerfall eines Ökosystems

Das war zum einen das berühmte Foto von der Oscarverleihung 2014, auf dem Ellen DeGeneres mit diversen Celebritys posierte, von Meryl Streep bis Brad Pitt. Innerhalb von einer Stunde wurde das Foto 1,4 Millionen Mal retweetet – ein Rekord, der bis 2017 halten sollte. Ebenfalls ins Jahr 2014 fällt das sogenannte #Gamergate – eine Onlinekampagne, bei der mehrere Frauen aus der Gaming-Industrie über Wochen hinweg terrorisiert wurden. Für viele junge weiße, männliche Amerikaner war das eine Art politisches Erweckungserlebnis, das später in Dingen wie dem Sturm auf das Kapitol mündete. Und zuletzt war es auch das Jahr von "Alex from Target" – einem Meme, in dessen Zentrum ein Verkäufer im Teenager-Alter stand, der dadurch auffiel, dass an ihm überhaupt nichts auffällig war. "In diesen drei Dingen ist alles Schlechte des Internets angelegt, das sich in den folgenden Jahren verfestigte", sagt der Experte. "Die Tyrannei der lautesten Stimmen, die Transformation traditioneller Berühmtheit auf neue Plattformen und die dröhnende Leere des Contents, der noch heute das Netz bestimmt."

Oscar-Verleihung 2014
Ellen DeGeneres

In den folgenden Jahren wurde nicht nur, siehe oben, die Welt dunkler und gefährlicher. Auch im Netz änderten sich strukturell ein paar Dinge. Diese waren nicht neu, erreichten aber eine kritische Schwelle. Internetgiganten wie Meta und Alphabet breiteten sich immer weiter aus. Die Regeln der wichtigen Distributionsplattformen wie Google Play oder der Apple Store sorgten für eine Kommodofizierung der Onlineerfahrung. Der Raum, in denen Internet fernab von Big Tech entstehen kann, wurde stetig kleiner. "Wenn eine Plattform zerfällt, wie Twitter unter Elon Musk, gibt es nichts in dem Ökosystem, das es gleichwertig ersetzen kann", heißt es im New Yorker. Wie in einem Wald mit dichtem Kronendach, unter dem neues Wachstum nur schwer möglich sei.

Wo bleibt die Surprise?

Es ist natürlich nicht so, als seien keine neuen Plattformen entstanden. Aber die wichtigen Neulinge wie Tiktok und Twitch sind eher Einbahnstraßen, auf denen ein Creator mit seinem Publikum kommuniziert. Auf Facebook und Twitter entspannen sich dagegen früher unter den Postings lange Diskussionen zwischen den Usern.

Die Plattformen veränderten sich aber auch im Inneren. In ihren besten Zeiten funktionierten Facebook und Twitter wie ein zentraler Marktplatz: Auf Facebook klickte man auf Gawker-Links, erfuhr von Veranstaltungen und dem Leben seiner Freunde. Twitter war ein Diskursraum und News-Aggregator. Und weil die Plattformen noch in der Phase waren, wo sie Marken als Kunden gewinnen wollten, wurde das Setzen von externen Links weniger bestraft. Heute geht es vor allem darum, die User auf der eigenen Plattform zu halten. Die "organic referrals", also der Traffic von Social-Media-Plattformen, ist in den letzten drei Jahren global um die Hälfte eingebrochen. Wer auf X gesehen werden will, schreibt lange Threads, gern zum immergleichen Thema. Das Überraschungsmoment ist abhandengekommen.

Vine doch nicht

Tiktok, die wichtigste neue Plattform der letzten Dekade, kann die Unschuldigkeit manchen Vorgängers nicht kopieren. Allein weil es der chinesischen Diktatur entstammt, die Industrie es längst gekapert hat und sich dort in den verschiedenen Kreisen der Hölle alles tummelt, vom Hassprediger bis zum Bin-Laden-Brief. Aber der Zauber des globalen Netzes existiert dort natürlich weiterhin. Im Herbst ging ein Video viral, auf dem drei Seidenhühner vermeintlich die Kamera antanzten. Etwas später tauchten Videos von Teenagern auf, die den Tanz der Hühner kopierten, mit perfekt einstudierten Bewegungen und passenden Frisuren. Es war eine Freude. Und eine Erinnerung daran, dass vielleicht nicht "das Internet" kaputt ist, sondern das, was von seiner Struktur circa 2014 noch übrig ist.

Was bleibt am Ende von der These, das Netz würde keinen Spaß mehr machen? Auch wenn man alles abzieht, was solche Pauschalurteile problematisch macht – vom Nostalgiefaktor bis zur einfachen Erkenntnis, dass das Internet damals nicht so toll und heute nicht so höllisch wie kolportiert ist –, steckt darin wohl ein Kern von Wahrheit. Das Internet hat sich verändert. Aber das gilt auch für die Welt, die heute multipolarer und gefährlicher ist als 2013, was sich eben auch im Netz widerspiegelt. Das ist der Lauf der Dinge. Denn ebenso klar ist: Wer im Jahr 2005 Myspace benutzt hat, der konnte über Vine 2015 nur lachen. (Jonas Vogt, 18.11.2023)