Süleyman Zorba: "Bei dieser langen Liste an Verfehlungen sollte man über politische Konsequenzen nachdenken."
Karno Pernegger

Die Liste politisch fragwürdiger Vorgänge rund um die geplante Messenger-Überwachung ist lang: Ein ganzes Lobbynetzwerk soll Einfluss auf die EU-Kommission genommen haben. Dazu kommt eine als politische Werbung getarnte Desinformationskampagne mit Zahlen aus dubiosen Quellen auf X, vormals Twitter. Jetzt reicht es auch der heimischen Politik: Der Grünen-Politiker Süleyman Zorba fordert nun politische Konsequenzen.

Die Vorgeschichte: Forscherinnen und Forscher, zivilgesellschaftliche Organisationen und Datenschützer laufen seit Monaten Sturm gegen die geplante Verordnung zur Chatkontrolle, ja selbst Kinderschutzorganisationen kritisieren die Vorhaben der EU-Kommission zum vorgeblichen Kinderschutz. Das EU-Parlament möchte den Entwurf deutlich abschwächen, und selbst der eigene juristische Dienst sieht die Pläne kritisch.

Liste voller Vorwürfe

Der Vorwurf: Die Vorhaben zum Kampf gegen Darstellung sexuellen Missbrauchs würden zu anlassloser Messenger-Überwachung führen und sämtliche verschlüsselte Kommunikation in der Europäischen Union aufheben. Sollte der Entwurf so umgesetzt werden, kündigte die Signal Foundation bereits ihren Rückzug aus Europa an. Die Justizministerinnen und Justizminister aus Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und der Schweiz kritisierten die Pläne ebenso scharf. Die Kommission ließ sich von alledem bislang wenig beeindrucken.

Das allein wäre schon Grund für politischen Zündstoff, doch es kommt noch eine Ebene hinzu, denn die Entstehung der Verordnung dürfte auf äußert fragwürdige Lobbytätigkeit einer Organisation namens Thorn zurückgehen. Diese wurde im Jahr 2009 vom US-Schauspieler-Paar Demi Moore und Ashton Kutcher gegründet. Laut einer internationalen Recherche dürfte die Organisation, die sich selbst als "digitale Verteidiger von Kindern" bezeichnet, maßgeblich an der Entstehung des Entwurfs mitgearbeitet haben. Mehr noch: Hinter Thorn steht ein ganzes Netzwerk aus Lobbyorganisationen, die teilweise nur für den Zweck der Beeinflussung der EU-Kommission gegründet wurden. Und: Thorn verkauft über ein Subunternehmen die passende Software zur Erkennung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs an Kindern.

Im Zentrum von alledem steht EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Der schwedischen Politikerin wird ein Naheverhältnis zu Thorn nachgesagt, wie aus geleaktem Schriftverkehr zwischen Johansson und der Geschäftsführerin der Organisation, Juli Cordua, hervorgeht. Darin bittet Johansson Cordua unter anderem darum, die Lobbytätigkeit noch zu intensivieren, wie aus einer Recherche von "Balkan Insights" hervorgeht.

Desinformationskampagne

Johansson geriet also immer mehr unter politischen Druck und griff zu einer weiteren umstrittenen Maßnahme: Die EU-Kommissarin schaltete Werbung auf X, vormals Twitter, die gezielt an Menschen in besonders kritisch eingestellten Ländern gerichtet war. Das Problem: Dieses Microtargeting dürfte gegen gängiges EU-Recht verstoßen, was eine Beschwerde der Datenschutzorganisation Noyb einbrachte. Dazu kommt noch, dass in der Werbung für die Chatkontrolle mit Zahlen aus fragwürdigen Quellen gearbeitet wurde.

EU-Abgeordnete quer durch alle Parteien waren empört und zitierten Johansson wegen ihrer Desinformationskampagne in den Ausschuss. Dort verteidigte sich die schwedische Sozialdemokratin, indem sie sämtliche Vorwürfe zurückwies. Mehr noch: Sie verglich in einem offenen Brief ihre Kritikerinnen und Kritiker mit Rechtsextremen.

Kritik auch aus Österreich

Das brachte jetzt auch für die Politik in Österreich das Fass zum Überlaufen, und Rufe nach einem Rücktritt Johanssons werden zumindest indirekt laut. Süleyman Zorba ist Nationalratsabgeordneter der Grünen und hauptsächlich in den Bereichen Digitalisierung und Datenschutz politisch tätig. "Wir haben eine EU-Kommissarin mit fragwürdigen Lobbyverbindungen, die mit manipulierten Umfragen und verbotenen Werbemaßnahmen versucht hat, die Stimmung gegen die Verordnung zur Chatkontrolle zu drehen. Damit hat sie ihre eigenen Regeln im Umgang mit politischer Werbung auf Social-Media-Plattformen missachtet."

Insgesamt gebe die Kommission in der Debatte kein gutes Bild ab, weil die gesamte Diskussion dem eigentlichen Ziel des Kinderschutzes nicht dienlich sei, so der Politiker im Gespräch mit dem STANDARD. Den Kampf gegen Missbrauchsdarstellungen werde man jedenfalls technisch mit einem De-facto-Verschlüsselungsverbot nicht gewinnen, so Zorba. "Wenn man die Nadel im Heuhaufen sucht, ist es nicht sinnvoll, wenn man den Heuhaufen größer macht."

Daten aller Europäerinnen und Europäer offenlegen

Dazu komme noch eine fragwürdige Webekampagne auf X, einer Plattform, die von der Kommission selbst immer wieder wegen Desinformation und Hassrede kritisiert wird und gegen die aktuell sogar ein Verfahren nach dem Digital Services Act läuft.

Die Verordnung sei nicht nur technisch höchst fragwürdig, sie sei auch sachlich für den Kinderschutz untauglich. "Die Daten der Europäerinnen und Europäer in einer solchen geopolitischen Gemengelage offenzulegen ist höchst problematisch. Weil wir Manipulationsversuche von außerhalb der Union befürchten, bekämpfen wird sogar Endgeräte aus China. Auf der anderen Seite wird aber gefordert, einfach alle Daten der Europäerinnen und Europäer offenzulegen", so Zorba. Nachsatz: "Bei dieser langen Liste sollte man über politische Konsequenzen nachdenken."

Österreich ist gegen die Chatkontrolle

Österreich gehörte zu den ersten Kritikern der geplanten Verordnung zur Chatkontrolle. Auch im Innenministerium bestätigt man auf Nachfrage des STANDARD, dass es außer Frage stehe, dass der Rechtsakt grundrechtskonform gestaltet werden muss. "Interpersonelle Kommunikation muss daher von der Aufdeckungsanordnung ausgenommen werden", so ein Ministeriumssprecher.

Johansson kritisiert "verschwörerischen Unterton"

Johansson verteidigte sich gegen die Vorwürfe und bekrittelte ihrerseits die Wortwahl ihrer Kritiker, gab aber an, dass all das nur "meine Entschlossenheit stärke". Die internationalen Recherchen hätten einen "verschwörerischen Unterton". Einen finanziellen Einfluss von Lobbyingorganisationen auf die Kommission habe es nie gegeben, betont die Schwedin. Ihr Ziel sei, Kinder vor Missbrauch zu schützen. "Wenn mein Vorschlag nicht angenommen wird, droht uns ein vollständiges Verbot der Aufdeckung von sexuellem Kindesmissbrauch, wenn die befristeten Rechtsvorschriften, die dies ermöglichen, nächstes Jahr auslaufen," schrieb die EU-Kommissarin in einer Stellungnahme zu den Vorwürfen Ende Oktober. (Peter Zellinger, 17.11.2023)