Ashton Kutcher soll enormen Einfluss auf die EU-Kommissarin Ylva Johansson genommen haben.
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Die Indizienlage ist, vorsichtig formuliert, schwierig. Zahlreiche Abgeordnete des EU-Parlaments hegen den Verdacht, EU-Innenkommissarin Ylva Johansson stehe in einem Naheverhältnis zu der angeblichen Wohltätigkeitsorganisation Thorn. Diese vom US-Schauspieler Ashton Kutcher gegründete Organisation soll die treibende Kraft hinter den Plänen für die anlasslose Messengerüberwachung sein.

Der Vorwand: Man müsse die Darstellung von sexueller Gewalt gegen Kinder verhindern. Dazu kommen noch möglicherweise illegales Micro-Targeting in Form von Werbung für Chatkontrolle und sehr viele eigens gegründete Organisationen, die Einfluss auf die Kommissarin genommen haben sollen. Johansson selbst dementiert und fühlt sich einer Rufmordkampagne ausgesetzt.

Die Vorgeschichte: US-Schauspieler Ashton Kutcher lobbyiert mit der von ihm gegründeten Organisation Thorn intensiv für die Chatkontrolle. Thorn gibt sich selbst als Wohltätigkeitsorganisation aus, die CSAM, also Child Sexual Abuse Material (Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder), bekämpfen will. Aber: Dahinter steht ein kommerzielles Unternehmen namens Safer. Praktischerweise bietet Safer gleich die passende, angeblich KI-gestützte Software zur Erkennung von CSAM an.

Kutcher ist längst nicht allein. Neben Thorn und Safer lobbyiert ein ganzes Netzwerk in Brüssel für die Chatkontrolle, das sich unter dem Dach der "European Child Sexual Abuse Legislation Advocacy Group", kurz ECLAG, vereint hat.

"Das am meisten kritisierte europäische Technologiegesetz des letzten Jahrzehnts ist das Produkt der Lobby von Privatunternehmen und Strafverfolgungsbehörden. Kommissarin Johansson ignorierte die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft in Europa, während sie Big Tech die Hand schüttelte, um ein Gesetz vorzuschlagen, mit dem die Massenüberwachung legalisiert und die Verschlüsselung geknackt werden soll", kritisiert etwa Diego Naranjo von European Digital Rights (EDRi).

Brief an CEO von Thorn

So soll Johansson, nur wenige Tage bevor sie ihre umstrittenen Pläne zur Chatkontrolle vorlegte, einen Brief an Julie Cordua, die Geschäftsführerin von Thorn, verfasst haben. "Wir haben auf dem Weg zu diesem Vorschlag viele Momente miteinander geteilt", schrieb die sozialdemokratische Politikerin. In dem Schreiben forderte die schwedische Politikerin Cordua auf, ihre Lobbyarbeit zu verstärken: "Jetzt bitte ich Sie, dazu beizutragen, dass dieser Start ein Erfolg wird."

Der Entwurf von Johansson würde die Verschlüsselung von Messengerdiensten wie Whatsapp, Signal oder Telegram aushebeln und die anlasslose Überwachung Realität werden lassen. Die Verordnung würde digitale Plattformen – von Facebook bis Telegram, von Signal bis Snapchat, von Tiktok bis Clouds und Online-Gaming-Websites – dazu verpflichten, jede Nachricht nach CSAM zu scannen und zu dieses zu melden.

Der oberste Datenschutzbeauftragte der EU, Wojciech Wiewiórowski, warnte Johansson bereits im Jahr 2020 vor den Risiken. Sie kämen einer "Überschreitung des Rubikon" in Bezug auf die Massenüberwachung von EU-Bürgerinnen und -Bürgern gleich, sagte er in einem Interview mit "Balkan Insight". Es würde "das Internet und die digitale Kommunikation, wie wir sie kennen, grundlegend verändern".

Das Lobbynetzwerk

Zu dem Lobbying-Netzwerk gehört angeblich auch die We Protect Global Alliance, die laut einem Bericht von "Heise" mehr als 24 Millionen US-Dollar in das Anliegen zur Chatkontrolle gesteckt hat.

In Thorns Offenlegungen für das EU-Transparenzregister sind Treffen mit hochrangigen Mitgliedern der Kabinette von Spitzenbeamten der Kommission aufgeführt, die ein Mitspracherecht in der Sicherheits- oder Digitalpolitik der EU haben, darunter Johansson selbst, die Kartellbeauftragte Margrethe Vestager, der Vizepräsident der Kommission Margaritis Schinas und der für den Binnenmarkt zuständige Kommissar Thierry Breton. Ashton Kutcher hat sich übrigens vor kurzem aus Thorn zurückgezogen, nachdem er selbst in heftige Kritik geraten war – hatte er sich doch für einen befreundeten Schauspieler starkgemacht, der mittlerweile wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu mindestens 30 Jahren Haft verurteilt wurde.

Gewinn mit KI-Tools

Obwohl Thorn in der Lobbydatenbank der EU als Wohltätigkeitsorganisation registriert ist, verkauft es seine KI-Tools gewinnbringend auf dem Markt; seit 2018 hat beispielsweise das US-Ministerium für Heimatschutz Softwarelizenzen von Thorn für insgesamt 4,3 Millionen US-Dollar erworben. Dabei gibt es erhebliche Zweifel daran, dass die Software überhaupt funktionieren kann. "Erkennungstechnologien sind zutiefst fehlerhaft und anfällig für Angriffe", warnten etwa mehr als 300 Wissenschafterinnen und Wissenschafter Ende Juli. In einem offenen Brief sprachen sie sich gegen die Chatkontrolle aus.

Mitglieder des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des EU-Parlaments fordern deshalb Konsequenzen für Johansson. Der Juristische Dienst soll nun überprüfen, ob die Innenkommissarin ihre Pflicht zur Neutralität verletzt hat und gezielt in den Gesetzgebungsprozess eingegriffen hat, wie Patrick Breyer von der deutschen Piratenpartei bekanntgab.

Johansson schaltete Werbung auf X

Johansson sieht sich auch dem Vorwurf einer Desinformationskampagne ausgesetzt. Johansson reagierte auf die Enthüllungen rund um ihre mutmaßlichen Verstrickungen in das Lobbynetzwerk mit einer Online-Werbekampagne, wie netzpolitik.org berichtet. In einzelnen Ländern mit mehrheitlich kritischer Einstellung wurden Zielgruppen mittels Micro-Targeting in Form von Werbungen auf X, vormals Twitter, angesprochen – derartige politische Werbung soll in der EU eigentlich eingeschränkt werden. Die Kampagne soll in den Niederlanden, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal und der Tschechischen Republik mehr als drei Millionen Mal ausgespielt worden sein.

Johansson selbst wies die Vorwürfe in Form eines öffentlichen Statements auf der Website der EU-Kommission zurück und beklagte den verschwörerischen Unterton der Vorwürfe. Außerdem holte sie zum Gegenschlag aus und kritisierte ihrerseits unter anderem EDRi scharf: "Die größte NGO für digitale Rechte in Europa wird vom größten Technologieunternehmen der Welt finanziert. EDRi, die europäische NGO für digitale Rechte, veröffentlicht auf ihrer Website, dass sie von Apple finanziert wird. Apple wurde beschuldigt, Verschlüsselungsdaten nach China zu verlagern, was laut Kritikern die Kundendaten gefährden könnte."

Am Mittwochnachmittag wird sich Ylva Johannsson vor dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres erklären. (Peter Zellinger, 25.10.2023)