Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, gilt als die treibende Kraft hinter der Chatkontrolle. Ihr wird ein Naheverhältnis zu der angeblichen NGO Thorn des US-Schauspielers Ashton Kutcher nachgesagt. Ihre Werbekampagne auf X für die Chatkontrolle bringt der EU-Kommission jetzt eine Datenschutzbeschwerde ein.
EPA/JULIEN WARNAND

Die vorgeschlagene EU-Verordnung zur Chatkontrolle ist wohl eine der umstrittensten Verordnungen seit langem. Unter dem vorgeblichen Ziel der Bekämpfung von Darstellung sexuellen Missbrauchs von Kindern (Child Sexual Abuse Material, CSAM) sieht der Kommissionsentwurf vor, dass Anbieter von Kommunikationsplattformen von sich aus die Kommunikation überwachen und auf verdächtiges Material scannen müssen.

Die Kritik: Das Gesetz könnte die gesamte verschlüsselte Onlinekommunikation untergraben – und der Massenüberwachung Tür und Tor öffnen. Gegen das Kommissionsvorhaben hat sich eine breite Front unter anderem aus der Industrie, der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft, den Mitgliedstaaten und den juristischen Diensten der europäischen Institutionen gebildet. Auch das EU-Parlament hat sich für einen deutlich abgeschwächten Entwurf der umstrittenen Verordnung ausgesprochen. Die Verhandlungen in Brüssel schreiten dennoch voran, und die EU-Kommission drängt auf eine baldige Verabschiedung. Vor allem Spanien, das aktuell den Ratsvorsitz hat, möchte die Regelung noch vor Ablauf der Periode durchpeitschen.

Die Ablehnung ist also groß, dazu kommen noch weitere pikante Details: Die EU-Kommission unter der zuständigen Kommissarin Ylva Johansson hat versucht, die öffentliche Meinung zu drehen und die Chatkontrolle zu bewerben. Dazu wurde im September 2023 eine Werbekampagne auf X, vormals Twitter, geschaltet. Das Problem: Derartige politische Werbung soll laut der EU-Kommission eigentlich eingeschränkt werden.

Während Onlinewerbung nicht per se illegal ist, hat die EU-Kommission Nutzende gezielt aufgrund ihrer politischen Ansichten und religiösen Überzeugungen angesprochen, so der Vorwurf. Konkret wurden die Anzeigen nur Personen angezeigt, die nicht an Stichworten wie Qatargate, Brexit, Marine Le Pen, Alternative für Deutschland, Vox, Christian, Christian-phobia oder Giorgia Meloni interessiert waren, wie die Datenschutz-NGO Noyb mit Sitz in Wien berichtet. Die EU-Kommission hatte zuvor selbst Bedenken hinsichtlich der Verwendung persönlicher Daten für das Micro-Targeting geäußert und die Praxis als "ernsthafte Bedrohung für einen fairen, demokratischen Wahlprozess" bezeichnet.

Irreführende Umfrageergebnisse

Der niederländische Beschwerdeführer wurde mit einem X-Posting konfrontiert. In diesem wurde behauptet, dass 95 Prozent der niederländischen Bevölkerung der Meinung seien, dass die Aufdeckung von Kindesmissbrauch im Internet wichtiger oder genauso wichtig sei wie ihr Recht auf Privatsphäre. Das Problem: Die Ergebnisse gelten als irreführend, da die Umfrage lediglich auf Meinungsumfragen der EU-Kommission basieren. Die negative Auswirkungen einer Chatkontrolle wurden gegenüber den Teilnehmenden demnach nicht erwähnt.

Die Werbekampagne verstieß nach Ansicht der Datenschützerinnen und Datenschützer auch gegen europäisches Datenschutzrecht. Denn laut DSGVO genießen die politischen Meinungen und religiösen Überzeugungen von Menschen besonderen Schutz. "Dennoch wurden genau diese Datenkategorien für die Werbekampagne verwendet. Noyb hat deshalb eine Beschwerde gegen die EU-Kommission beim Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB) eingereicht – und prüft derzeit eine Beschwerde gegen X. Immerhin hat die Plattform die unrechtmäßige Nutzung persönlicher Daten für das Micro-Targeting erst ermöglicht", heißt es in einer Mittelung der NGO.

Laut dem Noyb-Datenschutzjuristen Felix Mikolasch habe die EU-Kommission keine Rechtsgrundlage für die Verarbeitung sensibler Daten für gezielte Werbung auf X. "Niemand steht über dem Gesetz und die EU-Kommission ist keine Ausnahme", lässt Mikolasch wissen.

X selbst verbietet derartige Werbung – eigentlich

Sogar X selbst verbietet eine solche Nutzung persönlicher Daten. Die Social-Media-Plattform X gibt in ihren Werberichtlinien an, dass politische Zugehörigkeit und religiöse Überzeugungen nicht zum Zweck des Werbe-Targetings verwendet werden dürfen. Die Kampagne der EU-Kommission wurde dennoch an hunderttausende Menschen in den Niederlanden ausgespielt. Der betreffende Beitrag ist weiterhin online. Der Beitrag wurde mittlerweile mit einer Community-Note versehen, wonach die Werbung irreführend ist.

Insgesamt soll die Kampagne in den Niederlanden, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal und der Tschechischen Republik mehr als drei Millionen Mal ausgespielt worden sein.

"Es ist unfassbar, dass die EU-Kommission sich nicht an das Gesetz hält, das es erst vor wenigen Jahren mitinstitutionalisiert hat. Außerdem behauptet X, die Verwendung sensibler Daten für Werbe-Targeting zu verbieten – unternimmt aber nichts, um dieses Verbot tatsächlich umzusetzen", sagt Maartje de Graaf, Datenschutzjuristin bei Noyb.

"Die EU-Kommission scheint versucht zu haben, die öffentliche Meinung in Staaten wie den Niederlanden zu beeinflussen, um die Position der nationalen Regierungen im EU-Rat zu untergraben. Ein solches Verhalten – insbesondere in Kombination mit illegalem Micro-Targeting – ist eine ernsthafte Bedrohung für den EU-Gesetzgebungsprozess und widerspricht der Absicht der Kommission, politische Werbung transparenter zu machen", argumentiert man bei der Datenschutzorganisation. In der Beschwerde wird der EDSB aufgefordert, diese Vorwürfe gemäß der EU-DSGVO zu untersuchen. In Anbetracht der Schwere der Verstöße und der großen Anzahl betroffener Personen schlägt Noyb außerdem vor, eine Geldstrafe zu verhängen.

Ashton Kutchers Rolle

Neben der aktuellen Beschwerde reißt die Kritik an der zuständigen Kommissarin Ylva Johansson nicht ab. EU-Abgeordnete haben jüngst den Verdacht geäußert die schwedische Sozialdemokratin stehe in einem Naheverhältnis zur angeblichen US-Wohltätigkeitsorganisation Thorn. Diese vom US-Schauspieler Ashton Kutcher gegründete Organisation soll die treibende Kraft hinter den Plänen für die anlasslose Messenger-Überwachung sein. Gleichzeitig bietet Thorn über ein Subunternehmen die entsprechende Software für die Chatkontrolle an. (pez, 16.11.2023)

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