Die Abneigung, ja der Hass, der Israel vonseiten der heimischen und internationalen Linken entgegenschlägt, ist für manche verblüffend. Er lässt sich aber erklären – nicht rechtfertigen – als eine Projektion Israels als ein mächtiges, rücksichtsloses Instrument eines neuen Kolonialismus. Das ist auch der Grund, warum Israel im sogenannten Globalen Süden, also den sich benachteiligt fühlenden Ländern und Bevölkerungen Asiens, Südamerikas, Afrikas so wenig Solidarität oder eher das Gegenteil erfahren hat.

Israel ist in dieser Sicht die Speerspitze des westlichen, US-amerikanischen "Imperialismus". Es behindert die längst fällige "Dekolonisierung".

Demo in London
Weltweite finden Pro-Palästina-Proteste statt: Eine Großdemo gab es etwa am 11. November in London.
AP Photo/Alberto Pezzali

Darunter versteht der Globale Süden nicht mehr die alte Kolonialherrschaft weißer "Sahibs" und "Bwanas" und "Sirdars", denn die gibt es nicht mehr, sondern eine Machtverschiebung weg von der "weißen", westlichen Hegemonie hin zu den neuen Playern: China, Indien, aber auch zu der Türkei, dem Iran und den arabischen Staaten. Sie glauben, dass nun ihre Zeit gekommen sei.

Die Aggression gegen Israel ist also auch eine gegen die immer noch beherrschende Rolle des Westens. Aber das ändert nichts daran, dass Israel Millionen Palästinenser seit über 50 Jahren unter Besatzung hält und die jetzige rechtsextreme Regierung Netanjahu die Absicht hat, das Westjordanland zu annektieren und die Palästinenser auf ewig zu unterwerfen oder zu vertreiben. Israel ist vor 75 Jahren eine erfolgreiche Staatengründung gelungen, unter anderem, weil es eine offene Gesellschaft war. Den Palästinensern, die auf demselben Territorium lebten, aber eher in einer unfreien Clan-Herrschaft, ist sie nicht gelungen. Die umliegenden arabischen Diktaturen, die Israel verhindern und zerstören wollten, sind damit gescheitert. Und die Hamas führt ganz sicher keinen "Freiheitskampf". Ihre klare Absicht ist die Vernichtung Israels und die Errichtung einer religiösen Diktatur im gesamten "Palästina".

Dass dies eine Reaktion auf die bestialische Gewalt der Hamas ist, spielt dabei für die Vertreter des Globalen Südens keine Rolle. Sie selbst sind ja ganz überwiegend Gewaltherrscher und unterdrücken brutal die eigene Bevölkerung und andere Völker (China: die Tibeter und die Uiguren). Darüber sieht auch die "antiimperialistische" und "antikolonialistische" Linke im Westen großzügig hinweg.

Neue Konfliktlinie

Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass der Globale Süden ganz überwiegend aus autokratischen, autoritären Systemen besteht.

Nebenbei: Wenn wir von "Postkolonialismus" und "Dekolonisierung" sprechen, sollten wir nicht vergessen, dass etwa an der historischen Sklaverei schwarze Königreiche und arabische Sklavenhändler in Westafrika an vorderster Stelle beteiligt waren; und dass es britische christliche Organisationen waren, die im frühen 19. Jahrhundert den Kampf gegen die Sklaverei führten.

Zeichnet sich hier eine neue Konfliktlinie zwischen dem Globalen Westen (inklusive Australien, Japan usw.) und dem Globalen Süden ab? Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra (lebt in London) schreibt im Spiegel: "Der Konflikt im Nahen Osten wird sich voraussichtlich ausweiten (…) Westliche Politiker und Kommentatoren werden endlich die Bedeutung jener Länder des Globalen Südens besser verstehen müssen, jener Länder, die der Westen nicht mehr zwingen kann, seiner ‚regelbasierten internationalen Ordnung‘ zu folgen." Kann sein. Aber "regelbasierte Ordnung" ist nicht so schlecht, wenn es um Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte geht. (Hans Rauscher, 17.11.2023)