Der Schrecken sitzt tief. Bei dem brutalen Terroranschlag der Hamas auf Israel am Samstag starben mehr Jüdinnen und Juden als an jedem anderen Tag seit der Shoah.

Doch das islamistisch-antisemitische Massaker weckt nicht bei allen Menschen Abscheu. Der Terror findet Unterstützung in Ägypten, wo ein Polizist israelische Touristen angriff und tötete, bis in den Iran, wo das Regime der Islamischen Republik die Angriffe zelebrierte. Auch im Westen, auch in Österreich werden die menschenverachtenden Akte der Hamas und des Islamischen Jihad gefeiert. In Wien mit einem Autokorso durch den jüdisch geprägten zweiten Wiener Gemeindebezirk; in Berlin verteilte ein Palästinenser-Netzwerk Süßigkeiten; in London wurde ein koscheres Restaurant verwüstet; in Sydney riefen Menschen "Gas the Jews".

Menschenmenge, Palästina-Flaggen
Mittwochabend vor dem Wiener Stephansdom: eine zuvor untersagte Pro-Palästina-Demonstration.
Foto: APA / Tobias Steinmaurer

Die sozialen Medien sind voll von Statements, die den Terror als "Widerstand" verharmlosen, als einen Akt der "Dekolonisierung" und des "Befreiungskampfes". Terror und Gewalt werden nicht als verabscheuungswürdige Aktion, sondern als Reaktion gesehen, fernab jeder Analyse der politischen Situation. Während eine Anti-Israel-Demonstration in Wien stattfindet, warnt die jüdische Gemeinde ihre Mitglieder, öffentlich jüdische Symbole zu zeigen.

Video: Pro-Palästina-Demo in Wien: "Warum zeigen die Medien nicht unsere Leute, die gestorben sind?"
DER STANDARD/Titze

Massive Enthemmung

Diese massive Enthemmung des Antisemitismus, die in der Verherrlichung des Terrors hervortritt, ist schockierend und besorgniserregend. Doch wer mit der dahinterstehenden Ideologie vertraut ist, wird kaum überrascht sein. Denn die Rolle des islamistischen Antisemitismus ist sehr wohl bekannt. Das Weltbild der Hamas richtet sich gegen jüdisches Leben und gegen die gesamte westliche Welt und ihre "Verführungen" – das Blutbad, die Vergewaltigungen undVerschleppung von jungen Frauen von dem Musikfestival sind auch ein symbolischer Angriff auf liberale Werte. Islamismus ist geprägt von reaktionärem Denken, Frauenverachtung, Verschwörungsglauben und nicht zuletzt einer antisemitischen Vernichtungsfantasie. Die antiemanzipatorische und antifeministische, antiaufklärerische und antiwestliche Haltung teilen sich Islamisten der Hamas, des Islamischen Jihad bis zu den Unterstützerstaaten, vom islamischen Regime im Iran und der von ihm finanzierten Hisbollah über Katar bis zur Türkei.

Israelbezogener und antizionistischer Antisemitismus ist quer durch alle politischen Spektren salonfähig. Das ist gefährlich, auch für unsere Demokratie. Der Nahostkonflikt dient dabei als Projektionsfläche. "Israel" oder "die Zionisten" sind darin austauschbare Paraphrasen, gemeint sind "die Juden". Das belegen zahlreiche Studien und die Zahlen der Antisemitismusmeldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens.

Vereinfachende Welterklärung

Israelbezogener Antisemitismus beruht auf dem gleichen Gedankengut und bedient die gleichen Welterklärungsfantasien. Antisemitismus zeichnet sich durch ein Denken aus, das nur in Gut oder Böse unterscheiden kann. Dem Narrativ des homogenen, guten, "unterdrückten palästinensischen Volks" folgt die Gegenüberstellung eines das absolute Böse verkörpernden "imperialistischen Siedlerstaats Israel".

Sich selbst in vermeintlicher Notwehr und Widerstand gegen diese imaginierte jüdische Übermacht zu begreifen sind grundlegende Elemente des antisemitischen Denkens. In Bezug auf Israel werden sie mal in der Bezeichnung von Israelis als Nazis und dem Zionismus als Nationalsozialismus artikuliert, mal in der erst diese Woche auf dem Stephansplatz skandierten Behauptung "Kindermörder Israel", die an althergebrachte judenfeindliche Anschuldigungen anknüpft.

Auch in Österreich

Die aktuellen Aktivitäten auf den Straßen, auf Tiktok und Instagram teilen im Kern den antisemitischen Erlösungsglauben, dass der "Tod Israels", die Auslöschung jüdischen Lebens, die Welt von allen Übeln befreie. Sprüche wie "From the river to the sea", der die "Lösung" in dem Ende der Existenz Israels sieht, sind regelmäßig in Wien zu hören. Den offenen Judenhass und das brutale Morden der Hamas als revolutionär und widerständig zu betrachten ist Terrorverherrlichung. Wer die Hamas verharmlost, unterstützt letztlich ihr islamistisch-antisemitisches Ziel: jüdisches Leben auszulöschen, koste es – auch für die Bevölkerung Gazas –, was es wolle.

Dass israelbezogener und antizionistischer Antisemitismus, gerade in der liberalen Welt und auch in Österreich, die gängigere und dabei weniger sanktionierte Äußerungsform von Antisemitismus ist, liegt auch am Wegsehen und Relativierungen bis in die Wissenschaftsgemeinschaft. Boykottaufrufe gegen jüdische Vortragende an Universitäten, unter dem Vorwand, Israelis keine Bühne bieten zu wollen, werden toleriert. Auch immer wieder aufkommende Diskussionen über Antisemitismusdefinitionen verwaschen den Begriff. Es gibt Forderungen, Verweise auf die "Identität" oder "Intention" hinter antisemitischer Agitation zum Maßstab für das Erkennen und die Beurteilung von Antisemitismus zu machen, die verkennen, dass Judenhass wirkmächtig und gefährlich ist, egal wie er "gemeint" ist. Es ist falsch, nur als antisemitisch einzuordnen, was explizit gegen Jüdinnen und Juden gerichtet ist.

Eigentlich gibt es genügend Erkenntnisgewinn über die grundlegenden Elemente und Funktionen der antisemitischen Weltanschauung – diese müssen auch vermittelt werden. Wer Antisemitismus ernsthaft kritisieren will, muss dies mit universalistischem Anspruch tun. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist Aufklärung. Antisemitismus und Terrorverherrlichung müssen in der Öffentlichkeit, im Klassenzimmer und am Küchentisch als das benannt werden, was es ist. Wir müssen über die reale antisemitische Bedrohung sprechen und über die dieser zugrunde liegende Ideologie. (Isolde Vogel, 13.10.2023)