Sie haben Migrationshintergrund, sind mehrheitlich in Österreich geboren, aufgewachsen und hier in die Schule gegangen – und sie haben eine deutlich stärkere antisemitische Einstellung als die Gesamtbevölkerung. Wie stark der Antisemitismus bei Teilen der heimischen Musliminnen und Muslimen ausgeprägt ist, zeigte zuletzt eine Studie des Parlaments, die im Frühjahr präsentiert wurde. Knapp 3.000 Personen wurden befragt, 900 davon haben eine familiäre Migrationsgeschichte aus der Türkei oder arabischsprachigen Ländern. Diese Befragten wiesen insbesondere dann besonders antisemitische Tendenzen auf, wenn es um Positionen in Bezug auf den Staat Israel ging.

Klassenzimmer
Es sei wichtig, die aktuellen Ereignisse im Unterricht reflektiert aufzuarbeiten, sagt der Soziologe Kenan Güngör.
APA/EVA MANHART

So sind etwa die türkisch- und arabischsprachigen Teilnehmenden zur Hälfte der Meinung: "Wenn es den Staat Israel nicht mehr gibt, dann herrscht Frieden im Nahen Osten." Etwas mehr Zustimmung gibt es für die Aussage, dass "die Israelis die Palästinenser im Grunde auch nicht anders behandeln als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Juden". In der österreichischen Bevölkerung stößt das auf deutlich weniger Akzeptanz.

Kritik an Kundgebungen

Dass der terroristische Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel am Samstag unter anderem vor dem Kanzleramt – am Denkmal der Verfolgten der NS-Militärjustiz – bejubelt und gefeiert wurde, sorgt für anhaltende Kritik. "Es gibt keine Rechtfertigung für Terrorismus", sagte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch zum STANDARD: "Selten war es so klar, wo Licht oder wo Finsternis zu suchen ist."

Die Opposition in Wien warf der rot-pinken Stadtregierung Versagen in der Integrationspolitik vor.

Aber was passiert in Österreich, um antisemitische Tendenzen möglichst früh zu unterbinden? Geht es nach Deutsch, dann könnte es mehr sein: "Niemand wird als Antisemit geboren, aber in vielen muslimischen Ländern bekommen viele Kinder den Antisemitismus mit der Muttermilch mit. Es braucht mehr Programme, damit sie verstehen, dass Antisemitismus und Antijudaismus ein No-Go sind." Hierzulande hat sich der Blick erst ab 2014 verstärkt auf einen "muslimischen Antisemitismus" gerichtet, hielt Historikerin Helga Embacher im Mai anlässlich einer Bestandsaufnahme über den Stand der Antisemitismusforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften fest.

"Gefährliches Gebräu"

Im Kontext des Gazakrieges von 2014 habe sich "die türkische Community erstmals in einem größeren Ausmaß für Palästina mobilisieren lassen". Türkischer Nationalismus habe sich "mit islamistischen Versatzstücken und Antisemitismus zu einem gefährlichen Gebräu" gemischt. Als 2015 viele Geflüchtete vor allem aus muslimischen Ländern nach Österreich gekommen sind, sei das Thema wieder hochgekocht. Wobei Antisemitismus unter Muslimen dabei auch zur Entlastung des "eigenen Antisemitismus" instrumentalisiert worden sei. Embacher empfiehlt, "sehr stark bei der Bildung anzusetzen".

Das versucht auch Wien, wo aktuell eine Pilotphase läuft, die Radikalisierung jeglicher Art – darunter auch Antisemitismus – entgegenwirken soll. Die Idee entstand nach dem Terroranschlag 2020 in der Hauptstadt. An vorerst zehn Schulen sollen im Zuge des Projekts "Wir alle sind Wien" Botschafterinnen und Botschafter, die bei den Jugendlichen beliebt sind, in Workshops über Radikalisierung aufklären. "Essenziell ist die primäre Extremismusprävention", sagt der für Integration und Bildung zuständige Vizebürgermeister Wiens, Christoph Wiederkehr (Neos): "Wien tut einiges an Schulen und in der Jugendarbeit, um gegen Antisemitismus, aber auch gegen antimuslimischen Rassismus zu arbeiten."

Die Liste an Projekten, die man im Büro des Vizebürgermeisters aufzählt ist lange. So beauftrage etwa die Magistratsabteilung 17 – Integration und Diversität seit mehreren Jahren auch ein Peer-Training-Projekt von Zara an zwei Berufsschulen und fördere den Verein wie auch die Asylkoordination, die beide Workshops an Schulen anbiten – etwa zu den Themen Schule ohne Rassismus oder Schule der Vielfalt. Wiederkehr verurteilte die pro-palästinensischen Demonstrationen am Wochenende auf X (vormals Twitter) schwer. "Wo Terror und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf offener Straße gefeiert werden, sind die Grenzen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit erreicht. So etwas hat in Wien keinen Platz", erklärte er am Montag erneut zum STANDARD.

3.500 Workshops des Ministeriums

Und auch das Bildungsministerium fördert seit dem Frühjahr 2022 Workshops zum Thema Extremismusprävention über den OeAD an den Schulen. Die Kurse sind für die Schulen kostenlos. Bis Ende 2023 sollen rund 3.500 Workshops mit rund 85.000 Schülerinnen und Schülern durchgeführt werden, heißt es aus dem Ministerium. Als einen der Beiträge zum Nationalen Aktionsplan gegen Antisemitismus hat das Ministerium zudem eine eigene "Strategie gegen Antisemitismus durch Bildung" entwickelt. Darin seien "umfangreiche Maßnahmen im Bildungssystem, wie etwa Sensibilisierungen und Fortbildungen gegen Antisemitismus für Lehrkräfte aller Schularten und Gegenstände sowie auch für das Verwaltungspersonal vorgesehen", heißt es aus dem Ministerium. Die Strategie sei "verbindlich in den Vereinbarungen mit den Bildungsdirektionen" festgehalten.

Im Lehrplan "Geschichte und Politische Bildung" seien verpflichtende Bereiche verankert, die sich mit historischen und aktuellen Formen des Antisemitismus sowie des Extremismus und Populismus auseinandersetzen, um "ein Bewusstsein für die Grausamkeiten des Holocaust und die Erscheinungsformen von Antisemitismus in der Gegenwart zu schärfen", heißt es aus dem Bildungsministerium. Die Bekämpfung von Antisemitismus habe dabei "höchste Priotiät".

Thema in der Klasse

Der Soziologe und Migrationsexperte Kenan Güngör ist der Meinung, dass der Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel in den heimischen Klassenzimmern noch eine größere Rolle spielen wird. "Das bewegt die Muslime", sagt Güngör. Aufgrund der Migration in Österreich sei es wichtig, den Nahostkonflikt im Unterricht nicht auszusparen, sondern reflektiert aufzugreifen. "Wenn wir das nicht tun, arbeiten wir uns nur an unserer eigenen Geschichte ab, die einen großen Teil der Jugendlichen einfach ausblendet", sagt Güngör.

Auch die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich, die bereits am Wochenende zum Ende der "Gewaltverherrlichung" auf Österreichs Straßen aufgerufen hat, will das Thema in der Schule behandeln. Das für den islamischen Religionsunterricht zuständige Schulamt hat sich nun in einem Schreiben an die Religionslehrerinnen Religionslehrer gewandt. Darin wird erklärt, wie mit dem Thema sensibel und verantwortungsbewusst umgegangen werden soll. Die Lehrenden werden dazu aufgefordert, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass "jede Art der Instrumentalisierung von Religion ein Missbrauch mit negativen Folgen" sei und dass "die Hintergründe des Konfliktes politischer und nicht religiöser Natur" seien. Auch "Bemühungen im Bereich der Antidiskriminierung – gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit – sollen thematisiert werden".

Aber nicht nur auf Prävention wird gesetzt. Zuletzt hat die türkis-grüne Bundesregierung Maßnahmen im Kampf gegen den Antisemitismus beschlossen. Etwa sollen von der Republik verliehene Ehrenzeichen im Falle nationalsozialistischer Wiederbetätigung aberkannt werden. Zudem sollen jüdische Organisationen, Veranstaltungen und Einrichtungen statt vier Millionen Euro pro Jahr sieben Millionen Euro erhalten und eine außerordentliche Gestenzahlung in der Höhe von 5.000 Euro über den Nationalfonds an Opfer des Nationalsozialismus, etwa Holocaust-Überlebende, ausbezahlt werden. (Anna Giulia Fink, Oona Kroisleitner, Jan Michael Marchart, Antonia Rauth, 10.10.2023)