Ein Blatt aus Herbert Boeckls
Ein Blatt aus Herbert Boeckls "Anatomischem Skizzenbuch", angefertigt 1930 im Franz-Josef-Spital. So perspektivisch und dramatisch waren seine Figuren zuvor nie – und nachher nie mehr.
Herbert-Boeckl-Nachlass, Wien

Je nachdem, wie man sich zum Expressionismus verhält, kann man sich in der Albertina Modern gerade gut die Beine in den Bauch stehen oder sie in die Hand nehmen. Denn das Museum besitzt mehrere hundert Werke aus dem Schaffen der beiden heimischen Paradevertreter Oskar Kokoschka und Herbert Boeckl und und zeigt das in der Schau Boeckl Kokoschka auch.

Unübersehbar unheilvoll ist da Alma Mahler mit Kind und Tod in schwarzer Kreide von Kokoschka aufs Blatt geworfen worden. Verinnerlichter zeigt sich das Expressive in Körperverrenkungen und gesenkten Köpfen der Kindermodelle. Man wähnt sich fast im Zombiefilm.

Wem das alles zu expressiv ist, der geht lieber einen Raum weiter. Da hängt mit Boeckl ein einen Gang heruntergeschalteter Expressionismus an der Wand. Qualen? Müsste man unter Aquarellfarben mehr erahnen als erkennen. Wem das noch zu viel ist, der geht noch einmal weiter: Tauben, Früchte, Fische, Garten, gelöst, offen, locker. Anders gesagt: Sie können sich entspannen!

Ein Knabenakt (1912) von Oskar Kokoschka.
Ein Knabenakt (1912) von Oskar Kokoschka.
ALBERTINA, Wien | © Fondation Oskar Kokoschka / Bildrecht, Wien 2023

Man wird folglich Zeuge von Schwundstufen des Expressionismus. Boeckl und Kokoschka trennt so viel, wie sie verbindet. Als Rivalen, nicht als Freunde, stellt die Schau beide vor. Wohl gründet das in Privatem, aber es trennen sie auch acht prägende Jahre: Kokoschka (1886 geboren) war ab 1907 eine Gründungsfigur des Expressionismus, sein Werk begann zugleich mit Gruppen wie der Brücke. Boeckl indes wurde, 1894 geboren, erst nach dem Ersten Weltkrieg Künstler.

Der Boeckl als Gärtner

Der expressionistischen Avantgarde wurde da schon von der Neuen Sachlichkeit der Rang abgelaufen. Die zeichneten Realismus und Nüchternheit aus, Motive waren häufig Landschaften und Stillleben. So expressiv wie Kokoschka, in den 1920ern noch vor Picasso teuerster Künstler Europas, war Boeckl nie. Das gilt für Werk und auch Leben.

Herbert Boeckls
Herbert Boeckls "Selbstbildnis mit blauem Hemd" von 1929.
ALBERTINA, Wien – Familiensammlung Haselsteiner | © Herbert-Boeckl-Nachlass, Wien

Während Kokoschka, des Rufs als Enfant terrible in Österreich überdrüssig, erst nach Dresden ging und ab den 1950ern in einem Garten in Villeneuve sein Glück fand, heiratete Boeckl und bekam mit seiner Frau neun Kinder. Lebensgroß in Öl ist die – einst skandalöse – nackte Schwangere in der Schau eine Feier weiblichen Selbstbewusstseins.

Nah kamen einander die Werke beider dann doch. Im letzten Raum – vom Frühwerk ist man inzwischen beim mittleren bis späten angekommen – sieht man es erst, da malte Kokoschka (Jahre nach dem vom Informel dazu gebrachten Boeckl) auch Tiere, Pflanzen, Berge.

Inspiriert vom Garten am Genfer See, hielt Kokoschka nun Blumensträuße oder Spechte von einer fabelhaften Luftigkeit in Farben und Pinselstrich fest. Man sollte sich als dem Expressiven abgeneigter Besucher nur bloß nicht umdrehen, dahin, wo Boeckls Anatomisches Skizzenbuch hängt, gefertigt im Seziersaal. Ein Ausreißer im Werk. (Michael Wurmitzer, 18.11.2023)