Ramallah, der Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) unter Präsident Mahmud Abbas, ist wieder in die diplomatischen Reisepläne aufgenommen. Am Freitag stand die Stadt im Westjordanland auch auf der Nahostroute des EU-Außenpolitikbeauftragten Josep Borrell. Zu Wochenbeginn hatte er in Brüssel von einer "gestärkten" PA gesprochen, die nach dem Ende der Hamas im Gazastreifen die Verantwortung übernehmen soll. Konkretes dazu – wie stärkt man die Behörde, wie bringt man sie nach Gaza – gibt es nicht.

Die Autonomiebehörde, die im Rahmen des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses in den 1990er-Jahren geschaffen wurde, ist aber nicht nur wegen der Zukunft des Gazastreifens plötzlich nachgefragt. Die Angst vor einer Eskalation im Westjordanland, dem Ausbruch einer neuen Intifada, steigt, und Abbas’ Besucher fordern ihn auf, alles zu tun, um die Lage ruhig zu halten.

Antony Blinken schüttelt Mahmud Abbas die Hand.
Palästinenserchef Mahmud Abbas ist wieder ein gesuchter Gesprächspartner, hier am 5. November mit US-Außenminister Antony Blinken.
AP/Jonathan Ernst

Das ist allerdings nicht viel. Der seit Mittwoch 88-Jährige steht nicht nur, was seine Gesundheit betrifft, auf schwachen Beinen. Abbas, dessen Fatah-Partei eine tiefe Feindschaft zur Hamas hegt und umgekehrt – die Hamas hat die Fatah 2007 gewaltsam aus dem Gazastreifen verdrängt –, laviert sich so durch zwischen Nichtverurteilung der Hamas und der Versicherung, weiterhin an einer friedlichen Lösung des Konflikts mit Israel interessiert zu sein, Modell Zweistaatenlösung. Eine totale Destabilisierung des Westjordanlands könnte ihn und die PA hinwegfegen.

Von Israel trotz einer aufrechten Sicherheitskooperation jahrelang als möglicher Gesprächspartner für eine Konfliktlösung abgelehnt, sieht Abbas jetzt die Rolle der alten PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) als alleiniger legitimer Vertreter der Palästinenser bestätigt. Die USA haben ihm das explizit bescheinigt. Die internationale Gemeinschaft hat niemand anderen.

Die Gewalt steigt

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober steigt die Gewalt im Westjordanland, sowohl vonseiten bewaffneter palästinensischer Gruppen, darunter auch der Hamas, gegen Siedler und die israelische Armee als auch durch jüdische Extremisten gegen unbeteiligte Palästinenser. Die größte Zahl an Toten gibt es wegen der israelischen Armeeoperationen, sie näherte sich am Freitag den 200 seit 7. Oktober.

Für die israelische Rechte, die das 1967 eroberte Westjordanland als Teil des israelischen Territoriums betrachtet, wären der Zusammenbruch und die Auflösung der Palästinenserautonomie im ersten Moment zwar vielleicht eine willkommene Entwicklung. Die finanziellen und die politischen Kosten und die Sicherheitsherausforderungen – beim laufenden Krieg in Gaza und Raketenbeschuss der Hisbollah aus dem Libanon – wären jedoch enorm. Israel müsste als Besatzungsmacht alle zivilen Aufgaben, die die PA jetzt noch erfüllt, übernehmen.

In fast allen internationalen Szenarien für den Post-Hamas-Gazastreifen ist hingegen vorgesehen, dass die Palästinenserbehörde auch dort wieder die Verwaltung übernimmt. Für die PA scheint im Moment theoretisch also beides möglich: dass sie aus der jetzigen Katastrophe als politischer Gewinner oder als Verlierer hervorgeht.

Umfragen im Westjordanland ergeben seit Jahren, dass die PA die Mehrheit in der Bevölkerung verloren hat: Auch Abbas selbst schneidet nicht besser ab. 2005, bei den Präsidentschaftswahlen nach dem Tod Yassir Arafats, wurde er mit realistischen 67 Prozent gewählt. 2006 brach dann mit den Parlamentswahlen die Katastrophe herein. Schon damals war die PA, gute zehn Jahre nach ihrer Gründung und mitten in der zweiten Intifada, so unbeliebt, dass im Gazastreifen die Hamas gewann. Auch im Westjordanland schnitt sie gut ab.

Wahlsieger Hamas

Die Hamas, die mit einer Terrorserie 1996 wesentlich dazu beitrug, dass in Israel die friedenssuchende Arbeitspartei abgewählt wurde, lehnt(e) den Oslo-Friedensprozess und das Existenzrecht Israels ab. Eine gemeinsame Hamas-Fatah-Regierung wurde deshalb nach den Wahlen von den USA und der EU nicht akzeptiert. Nach dem Scheitern der Regierung warf die Hamas 2007 die PA aus dem Gazastreifen. In den Palästinensergebieten fanden seitdem keine Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mehr statt, alle demokratischen Mandate sind längst abgelaufen.

Abbas ist politisch und intellektuell längst nur noch ein Schatten seiner selbst. Dem Moderaten von früher funkt nun immer wieder die antisemitische Indoktrination seiner Jugend hinein. Selbst galt er nie als korrupt, aber die Korruption in seiner Umgebung – auch seiner Familie – verhinderte er nicht.

Besonders sichtbar war sie in frühen Autonomiejahren im Gazastreifen, wo sich die aus dem Exil zurückgekehrten Bonzen ihre Häuser bauten. Die Institutionen der PA wurden zwischen den beiden Teilen des geplanten zukünftigen Palästinenserstaats aufgeteilt: So kam ein Parlamentsgebäude nach Gaza, das jetzt von Israel demoliert wurde. Finanziert hat vieles davon die EU.

Abbas lässt Nachfolgediskussionen nicht zu, was zur Lähmung beiträgt. Palästinensische Intellektuelle, meist im Ausland, fordern eine Renaissance der Fatah unter einer neuen Führung, dabei kommt auch der Name Marwan Barghouti aufs Tapet. Der wurde 2004 von Israel wegen Terrorismus zu mehrfach lebenslanger Haft verurteilt. Das von einem Mythos umwehte Fatah-Mitglied steht mit Gewissheit nicht auf der Liste der palästinensischen Gefangenen, die die Hamas befreien will. (Gudrun Harrer, 18.11.2023)