Protest 2016, Johannes Steinhart, Thomas Szekeres
Johannes Steinhart (Dritter von rechts, vorne): Protest gegen Neuerungen hat Tradition. Hier eine Szene von 2016, als der Kammerpräsident noch Vize war.

Bild und Botschaft sollten schockieren. Die Inserate zeigten eine nackte ältere Frau mit betroffenem Blick, deren Figur weit von der eines gängigen Modelkörpers entfernt war. "Elga stellt Sie vor anderen bloß", war darüber zu lesen: "Wollen Sie tatsächlich mit Ihren Gesundheitsdaten in der Öffentlichkeit stehen?"

"Fürchterlich" fand Sigrid Pilz das Sujet. Wie unzählige andere Fachleute auch hält es die damalige Patientenanwältin Wiens für unverzichtbar, dass Ärztinnen und Ärzte über eine elektronische Gesundheitsakte Einblick in die Kranken­geschichten behandelter Menschen haben. Die Ärztekammer aber tat so, als könnte auch noch die Putzfrau im Spital mitlesen. In Wahrheit habe die Standesvertretung die Möglichkeit der Kontrolle gefürchtet, glaubt Pilz: "Sie maskiert eigene Interessen immer mit jenen der Patienten."

Nein zu Reformansätzen

Diese Kampagne ist zwölf Jahre alt, doch das Bild von damals klebt bis heute. Viele Experten, Politiker, Verhandlungspartner und manche Mediziner bezeichnen die Ärztekammer als jene Kraft, "die prinzipiell Nein zu allen Reformansätzen sagt", wie Ex-Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky (ÖVP) im ORF-Report sagte. Und diesmal soll es nicht bei Kritik bleiben.

Kommende Woche will die Regierung im Zuge des Finanzausgleichs eine Gesundheitsreform vorstellen. Was diese birgt, löste in der Kammer Alarm aus. ÖVP und Grüne wollen den Einfluss der Lobby massiv beschneiden. Aus gutem Grund? Hängt den Ärztevertretern zu Recht das Image der Blockierer nach?

Wer Andreas Huss fragt, bekommt als Antwort ein klares Ja. Der Obmann der österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), zuständig für die medizinische Versorgung außerhalb der Spitäler, bietet ein ganzes Sündenregister der Kammer auf. Im Mittelpunkt steht ein Schlüsselprojekt: Primärversorgungseinheiten (PVE) versprechen Patienten großzügige Öffnungszeiten und, zusätzlich zur Hausarztfunktion, auch ein breites Angebot von Psychotherapie bis Sozialarbeit. Diese Innovation soll die Prävention verbessern und die teuren, überlaufenen Spitalsambulanzen entlasten.

Während die Kammer den Ärztemangel beklage, hintertreibe sie im Hintergrund regelmäßig den Ausbau der PVE, sagt Huss: Ihr Ziel sei es, eingesessene Ordinationsin­haber vor neuer Konkurrenz zu schützen. Das könne er einer Interessenvertretung zwar nicht vorwerfen – nur dürfe diese dann in der Versorgungsplanung keine Rolle spielen.

Ärztekammer
Hängt den Ärztevertretern zurecht das Image der Blockierer nach? Das Kernproblem sei die Doppelrolle als Interessensvertretung und Entscheidungsträger in der Gesundheitsversorgung, sagen Kritiker.
IMAGO/CHROMORANGE

Ungewöhnliche Machtfülle

Das tut sie aber. Bis dato bietet das System der Kammer vielfältige Vetorechte. Ein Knackpunkt ist der Stellenplan. Wie das ärztliche Angebot aufs Land verteilt wird, hängt letztlich vom Placet der Kammer ab. Da können ÖGK und Bundesländer in regionalen Strukturplänen (RSG) noch so viele Vorgaben fixieren.

Für paradox hält Thomas Czypionka diesen Umstand. Es sei unsinnig, wenn die für die Versorgung zuständige Sozialversicherung mit den Ländern Pläne schmiede, am Ende aber alles von der Ärztekammer abhänge, sagt der Experte vom Institut für Höhere Studien (IHS). Auch er sieht in der Doppelrolle als Interessenvertretung und Entscheidungsträgerin ein maßgebliches Problem. Die der Kammer zugestandene Machtfülle sei im internationalen Vergleich außergewöhnlich.

Nächste Schritte

Erich Stubenvoll weiß, wovon der Fachmann spricht. Seine Heimatstadt Mistelbach habe sich vor einigen Jahren um eine fünfte Kassenstelle für einen Allgemeinmediziner bemüht, erzählt der heutige Bürgermeister (ÖVP). Doch wegen Widerstands der ansässigen Ärzte habe sich die Kammer quergelegt.

Auch eine Info-Veranstaltung, um Mediziner für ein geplantes PVE zu finden, habe die Standesvertretung torpediert, sagt Stubenvoll. Das erhoffte Zentrum gibt es in der Stadt bis heute nicht, immerhin aber eine Gruppenpraxis, die eines Tages dazu ausgebaut werden soll.

Solche Episoden sollen bald der Vergangenheit angehören. Das Mitentscheidungsrecht bei PVE hat die Regierung heuer bereits demontiert, was laut ÖGK einen Gründungsboom ausgelöst hat. Nun stehen die nächsten Schritte an. Die Strukturpläne von Ländern und Sozialversicherung sollen künftig verbindlich sein, mehrere Hebel dagegen werden der Kammer entzogen.

Mit Ärzten im Clinch

Das gilt auch für eine weitere Alternative zur klassischen Arztpraxis, dem Ambulatorium. Können vorhandene Stellen nicht besetzt werden, kann sich die Kammer künftig nicht mehr gegen eine solche Einrichtung wehren – eine Maßnahme gegen Versorgungslücken und Ärztemangel. Denn junge Mediziner arbeiten oft lieber als Angestellte im Team statt allein in der eigenen Ordination.

Wie hoch die Hürden da vorerst noch sind, kann Helmuth Howanietz berichten. Fast zehn Jahre lang musste der Arzt durch alle gericht­lichen Instanzen prozessieren, um sein Kinderambulatorium nahe dem Wiener Augarten eröffnen zu können. Seine Gegnerin: die eigene Standesvertretung.

Von den Anrainern wird sich über das Projekt kaum jemand beschweren; schließlich hat das Ambulatorium, das neben der medizinischen Basisversorgung etwa auch Physiotherapie und Diätberatung bietet, sieben Tage pro Woche offen. Der Ärztekammer sind derartige Institutionen ein Dorn im Auge, wie sie nun auch in ihrer Kritik an den Reformplänen klarmacht: Gewinnorientierte Investoren könnten Ambulatorien übernehmen und "das solidarische Gesundheitssystem in Gefahr bringen".

Ärzte haben die Politik im Auge. Mit rund zehn Millionen Euro will die Ärztekammer auch das Parlament unter Druck setzen und geplante Reformen noch verhindern.
Ärztekammer für Wien/Michaela Ob

Immer Teil des Problems?

Howanietz hält dieses Argument für vorgeschoben. Wolle man Konzerne, wie etwa Mercedes-Benz, ausschließen, lasse sich das im Gesetz festlegen, sagt er und glaubt an einen anderen Beweggrund. Die Kammer wehre sich gegen Ambulatorien, weil diese der Wirtschaftskammer zugeordnet sind. Machen diese Schule, entgehen der Ärztevertretung Kammerumlage und Beiträge für ihren Wohlfahrtsfonds.

"Hier ist gut zu erkennen, dass es um eigene Interessen und nicht um jene der Patientinnen geht", sagt Howanietz. Er will weiterkämpfen, denn er plant weitere zwei ähnliche, Einrichtungen – ob des Erfolgs der ersten. Derzeit sind beide aber noch in Warteschleife – wieder wegen Widerstands der Kammer.

Heterogenes Bild

Ist dies ein Extremfall oder die Regel? Wer sich in der Szene umsieht, bekommt ein heterogenes Bild geboten. Manche innovationsfreudige Ärzte fühlen sich bei ihrem Einsatz für PVE und andere moderne Angebote von der Vertretung im jeweiligen Bundesland gut unterstützt. Auch in der ÖGK räumt man ein, dass die Kooperation in manchen Regionen durchaus funktioniere.

Sie erlebe Gespräche mit der Landesärztekammer "immer als sachlich", erzählt die steirische Patientenanwältin Michaela Wlattnig, da funktioniere die Zusammenarbeit. Für nicht konstruktiv hält sie hingegen die Drohung der Bundes-Ärztekammer, aus Protest gegen die Reformen den Kassenvertrag aufzukündigen. Das würde bedeuten, dass Arzthonorare mangels funktionierender E-Card bar bezahlt werden müssten. Patientinnen und Patienten müssten ihre Rechnungen dann bei der ÖGK einreichen. Wlattnig: "Das kann nicht in ihrem Sinne sein."

Gerald Bachinger, als Wlattnigs Vorgänger 22 Jahre lang Sprecher der heimischen Patientenanwälte, urteilt schärfer. "Ich habe die Ärztekammer nie als Teil der Lösung, sondern immer als Teil des Pro­blems empfunden", sagt er und hält die Entmachtungspläne für absolut nötig: "Ich habe nicht gedacht, dass ich das noch erleben darf."

Johannes Steinhart
Johannes Steinhart, Chef der derzeit noch mächtigen Ärztekammer, scheint von den Reformplänen kalt erwischt worden zu sein.
APA/EVA MANHART

Gut gefüllte Kriegskasse

Die Ärztevertreter lassen die geballte Kritik naturgemäß nicht auf sich sitzen. Es sei ein Mythos, dass die Kammer bei PVE bremse, beteuerte Präsident Johannes Steinhart heuer im STANDARD. Aber die ­Suche nach geeigneten Betreibern koste eben Zeit: Weil der Wechsel in solch eine Einrichtung ein (wirtschaftliches) Risiko berge, suche die Kammer möglichst bewährte Teams, die bereits davor in einer Gruppenpraxis kooperierten.

Ein Blick in die Archive offenbart allerdings auch Fundamentalkritik. Vor sieben Jahren warnte Steinhart davor, dass PVE das "bewährte System der Hausärzte" aushebelten und das Ende der sozialen Medizin einläuteten. Nicht weniger dick trägt die Kammer jetzt wieder auf. Zur "Zerschlagung aller bewährten Strukturen" setze Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) an, er sei "der Totengräber des solidarischen Gesundheitssystems".

An sich wäre die Kammer für eine Meinungsschlacht gut gerüstet. Ihre Stärke erkläre sich auch mit dem großen Ansehen, das Ärzte in Österreich genössen, sagt IHS-Experte Czypionka. Er ist ein Befürworter der Reformen: "Das Götter-in-Weiß-Syndrom ist stark ausgeprägt."

Überdies ist die Kriegskasse randvoll. Allein die dominante Wiener Kammer saß dank der Pflichtmitgliedsbeiträge ihrer zahlungskräftigen Klientel auf dem Stand von Anfang 2022 – samt Rückstellungen, Fonds und liquiden Mitteln – auf einem Vermögen von 36,6 Millionen Euro. Im Kampf- und Aktionsfonds lagen knapp 15 Millionen. Österreichweit will die Standesvertretung zehn Millionen in eine Kampagne buttern, die neben der Gesundheitsreform auch die Wiener Spitalspolitik im Visier hat. Zum Vergleich: Für Nationalratswahlkämpfe beträgt die Ausgabenobergrenze aktuell rund acht Millionen.

In Wien wird neben der Gesundheitsreform auch gegen die prekäre Personalsituation in den Krankenhäusern mobilisiert. Stefan Ferenci, Vizepräsident der Wiener Kammer, kündigte auch einen Protestmarsch des Spitalspersonals für 4. Dezember in der Wiener Innenstadt an.
APA/HELMUT FOHRINGER

Doch ob die Kämmerer ihre Trümpfe gut ausspielen können, ist diesmal zweifelhaft. Die offizielle Erzählung, wonach die ruchlose Regierung die Kammer eiskalt von allen Gesprächen abgeklemmt habe, klingt nach einer Schutzbehauptung. Intern wird der Vorwurf erhoben, die Kammerführung habe das Lobbying zu der sich anbahnenden Reform schlicht verschlafen.

Lähmung durch Konflikt

Das hat einen triftigen Grund. In der Wiener Kammer tobt seit Monaten ein erbitterter Streit um Macht und Einfluss. Die eigentliche Arbeit kam durch interne Blockaden fast vollständig zum Erliegen. Anders gesagt: Die Lösung des völlig eskalierten Konflikts war prioritär.

Steinhart ist als Präsident sowohl der Wiener als auch der Bundes-Kammer heftig umstritten. Ende September forderten unter anderem alle drei seiner damaligen Stellvertreter in Wien seinen Rücktritt. Hintergrund ist die Rolle Steinharts im Krimi um Equip4Ordi, einer ehemaligen Tochterfirma der Kammer. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts des schweren Betrugs, der Untreue und der Begünstigung. Steinhart selbst wird neben weiteren drei Personen wegen des Verdachts der Beteiligung an Untreue als Beschuldigter geführt. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Steinhart hatte sich krankheits­bedingt von Ende April bis Ende August aus seinen Führungsfunktionen zurückgezogen. Nach seinem Comeback sprach ihm mehr als die Hälfte der Mitglieder der Vollversammlung in der Wiener Kammer das Misstrauen aus. Steinhart konnte bleiben, weil eine Zweidrittelmehrheit für seine Abwahl notwendig gewesen wäre. Nur, weil er geschickt interne Koalitionen schmiedete, konnte er sich an der Spitze halten.

Kostspielige Maßnahme

Zur Befriedung soll nun offenbar auch eine kostspielige Maßnahme dienen: Die Wiener Kammer schuf diese Woche gleich 16 neue Referate – darunter auch eines mit vier Präsidialreferenten, die es zuvor nicht gab. Die Arbeit in den Referaten wird finanziell abgegolten.

Die Spaltung beschränkt sich nicht allein auf Eitelkeiten und Führungsfragen. Man muss nicht lange suchen, wenn es um inhaltliche Kritik geht: Sogar manch hoher Kammer-Insider hält, hinter vorgehaltener Hand, gewisse Reformschritte für überfällig. Eines von mehreren Beispielen: Statt eines Medikaments sollen Ärzte künftig nur einen Wirkstoff verschreiben. Apotheken könnten somit Lieferengpässe umgehen und das günstigste Produkt ausgeben, hofft das Ministerium.

Zank um bunte Pillen

Die Kammer warnt hingegen vor "Gefährdung von Patienten". Ältere Leute seien gewohnt, zu einer bestimmten Uhrzeit die gelbe, zu einer anderen die grüne Pille zu nehmen. Sehen die Tabletten ständig anders aus, würden sich Senioren nicht mehr auskennen. Kritische Ärzte halten dies für Panikmache, denn schließlich ist dieses System in der EU längst Standard.

Gesundheitsminister Johannes Rauch
Am Freitag kam es zu einem Gespräch zwischen Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) und Ärztekammerpräsident Johannes Steinhart. Dieses sei "sachlich und konstruktiv" verlaufen, hieß es danach. Weitere Gespräche seien vereinbart worden. Das Gesundheitsministerium halte aber an "umfangreichen strukturellen Reformen" fest.
APA/GEORG HOCHMUTH

Die Regierung tritt bislang geschlossen auf. Sämtliche Bundesländer stehen dem Vernehmen nach hinter der Reform, die ÖVP sprang Gesundheitsminister Rauch bei. Dieser appellierte an die Kammer, "den einseitig ausgerufenen Kriegszustand zu beenden". Die Möglichkeit dazu gab der Minister Steinhart bei einem Gespräch am Freitag, weitere Gespräche wurden vereinbart.

Es handle sich um keine Reform gegen die Standesvertretung, erklärt der grüne Gesundheitssprecher Ralph Schallmeiner. Auf einen Konter will er aber nicht verzichten: "Die Kammer unterstellt uns alles Mögliche, ohne selbst gescheite Vorschläge zu bringen. Da hätte ich mir ein anderes Niveau erwartet." (Gerald John, David Krutzler, Gudrun Springer, 18.11.2023)