Brigitte Vettori
Stadtanthropologin Brigitte Vettori: "Wir müssen erst lernen, dass nicht jede Straße nur für Autos da ist."
© Christian Fischer

Der Knackpunkt sind die zahlreichen Wiener Baumaßnahmen: Parkplätze und erhöhte Gehsteige signalisieren Autorevier. Es gibt aber auch viele neu gestaltete Wohnstraßen. Diese funktionieren, weil Kurven, Möbel und die Streichung von Parkplätzen eine klare Botschaft senden. Eine Recherchetour durch Vorzeigegassen und Verkehrshöllen

Nibelungenviertel: Das "Wohnstraßengrätzel" hat Aufholbedarf

Der fährt jetzt zum Beispiel gegen die Einbahn“, stellt Brigitte Vettori nüchtern fest und schaut dem SUV nach, wie er rasant den dreifach illegalen Abkürzer durch die Markgraf-Rüdiger-Gasse nimmt. Dreifach illegal, weil: Autos dürfen in Wohnstraßen nur zu- und abfahren; selbst dann müssen sie auf Schritttempo drosseln; und die Einbahnführung wurde vor einigen Wochen umgedreht, um eben solche Schleichwegfahrten zu verhindern.

Vettori ist Stadtanthropologin bei Space and Place, der Verein setzt sich für eine sozial gerechte Platznutzung in Wien ein. Seit 2020 hatten die forschenden Aktivistinnen und Aktivisten die geänderte Einbahn gefordert, drei Jahre hat die Umsetzung gedauert.

Space and Place hat das Nibelungenviertel im 15. Bezirk zum "Wohnstraßengrätzel" erklärt: Gleich sieben solcher verkehrs­beruhigten Gassen hängen hier zusammen. Die Gestaltung lässt aus Vettoris Sicht aber zu wünschen übrig. Es ist eine der Gegenden, die Space and Place immer wieder belebt: "Wir nehmen uns gerne einfach eine Parklücke, stellen da unsere Sessel auf und genießen das Leben".

In einer Straße, die so sichtlich für Autos gemacht ist, ist das schon eine paradoxe Intervention.

Trotz der Umgestaltung lädt die Pelzgasse zum Durchfahren ein – gefährlich für spielende Kinder.
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Pelzgasse: Vorzeigeprojekt mit Wermutstropfen

Wenige Hundert Meter weiter schaut die Wohnstraßenwelt ganz anders aus: Die neu gestaltete Pelzgasse lockt alle Unmotorisierten mit einem einheitlichen Straßenniveau, schönem Belag und Sitz­gelegenheiten. Die Umgestaltung, auf die der Bezirk sehr stolz ist, geht auf die hartnäckige Initiative von Menschen zurück, die hier wohnen. "Die Leute müssen sich wirklich darum kümmern", sagt Vettori: "Wo viele zusammen­stehen und etwas tun, hat der ­Bezirk mehr Druck zu handeln."

Trotz des brandneuen Belags gibt es Dinge, die Vettori anders gemacht hätte. Nach wie vor nämlich dient ein großer Teil der Straßenfläche als Parkplatz für den motorisierten Verkehr. Links und rechts stehen die Fahrzeuge wie aufgefädelt. Zudem verläuft die Fahrbahn schnürlgerade, das wird durch hellgraue Linien verdeutlicht. "So etwas lädt natürlich zum Durchfahren ein", sagt Vettori.

Neben der baulichen Gestaltung einer Wohnstraße spielt aber auch die tatsächliche Nutzung eine Rolle – wenn Menschen ohne Auto den öffentlichen Raum nutzen, kommen weitere hinzu, ist Vettori überzeugt. Das sei ein kultureller Prozess: "Wir müssen erst lernen, dass nicht jede Straße nur für Autos da ist."

Noch wird in der Bernhardgasse ge­graben und betoniert, bald sollen hier Kinder spielen können.
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Bernardgasse: Hoffnungsschimmer im verbauten Gebiet

Direkt am lärmenden, vierspurigen Gürtel liegt das, was künftig Wiens Paradewohnstraße sein könnte: die Bernardgasse im siebten Bezirk. Noch wird hier auf einer Baustelle ge­graben und betoniert, die Autos bleiben der gesperrten Straße freilich schon jetzt fern. Brigitte Vet­tori schaut sich um und sagt einen merkwürdigen Satz: "Man sieht viel mehr – auch von den schönen Häusern." Tatsächlich fehlen die parkenden Autos am Straßenrand, die Lücke macht den Blick auf jene unteren eineinhalb Meter der Gebäude frei, die ansonsten von Blech verstellt sind.

Die Umrisse der künftigen Fahrbahn sind schon zu erkennen, sie verlaufen in Schlangenlinien durch die Gasse. Vettori glaubt, dass das eine Verhaltensänderung bei Autofahrern und Unmotorisierten bewirken wird: "Das Verschwenkte macht’s aus." Die Kinder, die das Gespräch vom Fenster ihres Kindergartens aus beobachten, werden sich hier einmal viel unbeschwerter als in einer normalen Straße bewegen können – und viel mehr Möglichkeiten haben: "Das Gute an einer Wohnstraße ist: Man kann sie in vielerlei Hinsicht nutzen", sagt Vettori. Zum Spielen und Entspannen, als Treffpunkt, für einen ungefährlichen Weg in Schule und Kindergarten.

Besonders an der Rahlgasse: aufgemalte Piktogramme.
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Rahlgasse: Wendegelegenheit vor der Schule

Die Rahlgasse im sechsten ­Bezirk ist eine besonders deutlich ausgeschilderte ­verkehrsberuhigte Zone: Sie wird nicht nur mit normalen Schildern als Wohnstraße markiert, sondern sogar mit einem auf die Fahrbahn aufgemalten Piktogramm. Doch die spielenden Strichmännchen sind mittlerweile verblichen, weil zu viele Autos darübergefahren sind.

Obwohl die Gasse bei der Mariahilfer Straße eine Sackgasse ist, gibt es Durchzugsverkehr. Denn Autofahrerinnen und Autofahrer nutzen den Minikreisverkehr am Ende der Gasse gerne zum Wenden. Auch die Parkplätze entlang der Gasse laden Verkehr ein.

"Es stehen einfach zu viele Autos da", sagt Vettori. Die Flächenverteilung hier im Zentrum der Stadt kann sie nicht nachvollziehen: Das riesige Gymnasium in der Gasse fasst 30 Klassen, Pausenräume sind Mangelware. "Die Schule könnte den Freiraum hier gut gebrauchen", sagt die Kultur- und Sozialanthropologin, deren Organisation diese Wohnstraße im Rahmen eines internationalen ­Projekts beforscht. Mit weniger Parkplätzen, Sitzgelegenheiten und einem einheitlichen Straßenniveau wäre die Wohnstraße ein großer Pausenraum für die Schülerinnen und Schüler.

Othmargasse: Schier unbezwingbare Blechhölle

Ein großer Sprung in den 20. Bezirk und zu einer lokalen Expertin: Hanna Schwarz vom Verein "Geht doch" nennt die Othmargasse in der Brigittenau "Wiens gefährlichste Wohnstraße". Das wirkt nicht weit hergeholt: In der Wohnstraße, wo Autos das Durchfahren verboten und Ein- und Ausparkenden das Schritttempo vorgeschrieben ist, staut es sich regelrecht – besonders dann, wenn auf dem nahen Hannovermarkt viel los ist. "Die Leute preschen da ziemlich durch", erzählt Schwarz, die die Gegend gut kennt. Die ­Othmargasse diene auch als Ab­kürzung. "Viele Leute wissen nicht, dass sie nicht durchfahren dürfen", sagt Schwarz. Auch der mit Kreide geschriebene Schriftzug "keine Durchfahrt" und Zusatzschilder halten etliche Motorisierte nicht fern.

Am Tag der Wohnstraße im ­September war Geht doch mit einem Großaufgebot in der Othmar­gasse: Die Aktivistinnen und Aktivisten haben Sitzgelegenheiten aufgestellt, Spiele gespielt – und Autofahrende mit Flug­zetteln informiert. Am Anfang, ­erzählt Schwarz, seien die Leute trotzdem durchgefahren, und das teils sehr schnell. Erst als sich die Menge auf etwa 30 Personen vergrößert hatte, sei eine Veränderung im Straßenverkehr zu ­beobachten gewesen. (Sebastian Fellner, 20.11.2023)