Über Figuren wie Yahya Sinwar, den Chef der Hamas im Gazastreifen und mittlerweile wohl mächtigsten Mann der Terrororganisation, oder Mohammed Deif, den Kommandanten des militärischen Arms, zu schreiben, ist immer ein zweischneidiges Schwert. Boulevardeske Beschreibungen wie "Schlächter von Khan Younis" oder "Das Antlitz des Bösen" mögen zutreffend sein, doch sie tragen immer auch zum Mythos dieser Männer bei, mag dieser noch so dunkel sein.

Yahya Sinwar, der Chef der Hamas im Gazastreifen, im April 2023 am "Al-Quds-Tag". Er ist Israels meistgesuchter Terrorist – aber auch derjenige, der einem Geiseldeal zustimmen müsste.
AFP/MOHAMMED ABED

Yahya Sinwar gilt als das Mastermind des Terrorüberfalls auf Israel am 7. Oktober und steht auf der "Most wanted"-Liste ganz oben. Gleichzeitig wird jedoch realistischerweise ohne seine Einwilligung der in Katar verhandelte Deal nicht umgesetzt werden, durch den Israel dutzende der von der Hamas im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln freibekommen möchte. Was würde mit ihnen geschehen, wenn Israel es gerade jetzt gelänge, Sinwar auszuschalten, das heißt, zu töten? Premier Benjamin Netanjahu hat Sinwar als "dead man walking" bezeichnet, er sei bereits umzingelt und isoliert.

"Kollaborateure" werden getötet

Seinen reißerischen "Schlächter"-Titel hat sich Sinwar nicht nur durch seine Brutalität Israel gegenüber erworben, sondern auch durch das Vorgehen gegen palästinensische "Kollaborateure". Da gibt es Storys darüber, wie er sie selbst umbrachte oder zusah, wie deren Angehörige es tun mussten. Yahya Sinwar wurde 1962 im damals unter ägyptischer Kontrolle stehenden Gazastreifen, in Khan Younis, geboren, wohin seine Eltern aus dem jetzigen Südisrael 1948 geflüchtet waren. Das erste Mal wurde er 1982 verhaftet, also noch vor der ersten Intifada und der Entstehung der Hamas, der er sich 1987 sofort anschloss. Er soll ein enges Verhältnis zum religiösen Gründer, Scheich Ahmed Yassin, gehabt haben, den Israel 2004 tötete.

Insgesamt verbrachte er 22 Jahre in israelischen Gefängnissen, dort lernte er auch gut Hebräisch. Er verstehe die Israelis weit besser als die Israelis ihn, sagen israelische Analysten. Sinwar war selbst Profiteur eines Gefangenenaustauschs, wie er ihn jetzt fordert: 2011 entließ Israel 1026 palästinensische Häftlinge im Austausch gegen den 2006 entführten Soldaten Gilad Shalit. 2015 kam er auf die US-Liste der "Specially Designated Global Terrorists" (SDGT). Umso interessanter ist, dass ihm in Analysen der letzten Jahre wiederholt bescheinigt wird, zu Waffenstillständen – eigentlich Waffenpausen (hudna), aber längerfristigen – mit Israel bereit zu sein. Ob das alles bereits Taktik in Hinblick auf den einen großen Überfall war, wird man vielleicht später einmal wissen.

Video: Hamas-Chef: Abkommen zu Waffenruhe mit Israel in greifbarer Nähe
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Übernahmegelüste

Yahya Sinwar galt auch stets als einer, der an einer Versöhnung mit der Palästinenserpartei Fatah – die 2007 von der Hamas aus dem Gazastreifen geworfen wurde – interessiert war. Dadurch verbesserte er auch sein Verhältnis zu Ägypten, dem Vermittler zwischen Fatah und Hamas. Es könnte sein, dass sich Sinwar dadurch Chancen ausrechnete, im Fall des Ablebens von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas (88) den ganzen palästinensischen Apparat übernehmen zu können. Gemäß den internationalen Szenarien soll das nach dem Ende der Hamas ja nun umgekehrt sein: Die von der Fatah geführte Palästinenserbehörde würde wieder im Gazastreifen installiert werden.

Eine Stärke Sinwars ist ohne Zweifel, dass er als Brücke zwischen dem Politbüro – dem er in Gaza seit 2017 vorsteht – und dem militärischen Arm der Hamas, den Qassam-Brigaden, dient, wo er früher Kommandant war. Die nach Izz al-Din al-Qassam benannten Einheiten – einem gebürtigen Syrer, der im Mandatsgebiet Palästina die Briten bekämpfte und 1935 getötet wurde – werden jetzt von der Schattenfigur Mohammed Deif befehligt.

Auch Mohammed Deif wurde in Khan Younis geboren, ist ungefähr gleich alt wie Sinwar und hat wie dieser an der Islamischen Universität in Gaza studiert. Wie Sinwar ist er US-"Specially Designated Global Terrorist". Zu seiner Person gibt es aber mehr Fragen als Antworten. Dass er in der Öffentlichkeit nie zu sehen ist, hat seinen Ruf nur noch gesteigert.

Angeblich sitzt er seit einem israelischen Angriff im Rollstuhl und hat auch ein Auge und einen Arm verloren, was ihm Beinamen wie "Die Katze mit den neun Leben" eingebracht hat. Für einige Zeit musste wegen seiner Verletzungen ein anderer, der 2012 von Israel getötete Ahmad Jabari, die Qassam-Brigaden übernehmen. Bei einem der israelischen Versuche, ihn umzubringen, sollen auch zwei seiner Kinder und seine Frau getötet worden sein. Den Begriff "Al-Aqsa-Flut" für den Terrorüberfall am 7. Oktober könnte er geprägt haben. Zu seinen Überzeugungen gehörte stets, dass die Hamas ihren Krieg nach Israel tragen muss, und so gilt er auch als "Erfinder" der Tunnelsysteme, die nach Israel hineinreichen. (Gudrun Harrer, 21.11.2023)