Thurston Moore, Sonic Youth
Thurston Moore, Gitarrist und Sänger von Sonic Youth, einer der wesentlichsten Bands der letzten 40 Jahre.
IMAGO/Alexander Gonschior

Wie jede gute Geschichte des Rock 'n' Roll beginnt sie bei Thurston Moore von Sonic Youth in der Provinz. Man kann sie in seiner soeben auf Englisch im Verlag Random House erschienenen Autobiografie "Sonic Life" nachlesen. Die Geschichte handelt von einem Erweckungserlebnis. Man sitzt zu Hause herum, es ist ein wenig langweilig – und plötzlich beginnt ein Dornbusch zu brennen!

Nach so einem Zimmerbrand ist nichts wie vorher. Man muss hinaus in die Welt und befreit zum Beispiel wie Moses die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten, Teilung des Roten Meeres inklusive. Andere hingegen sagen: Hier bin ich, ich kann nicht anders. Ich stelle mich jetzt sofort auf ein Paar Ski und werde Abfahrtsweltmeister – oder ich erfinde wenigstens eine Tablette gegen das Reißerte. Man kann sich aber auch eine elektrische Gitarre umschnallen und so lange und so laut mit Händen, Füßen oder Stöcken und Flaschen darauf herumhauen, bis die Nachbarn bald den Tag verfluchen, an dem der Strom in die Häuser eingeleitet wurde.

Taube Nachbarn

Wenn die Nachbarn dann endlich taub geworden und auch die Eltern dafür dankbar sind, dass die Kinder hinaus in die Welt wollen, dann sollen auch andere Menschen, am besten auf dem ganzen Planeten, von der Gnade Gottes aus der Steckdose erfahren. Das ist das Versprechen nicht nur dieses Buches: Rock 'n' Roll macht frei! Geistig und körperlich. Der Weltfrieden ist dann nur noch eine Frage der Zeit.

Sonic Youth

Im Falle von Thurston Moore, einem 1958 geborenen, schlaksigen Buben aus der Kleinstadt Bethel im weiteren Speckgürtel New Yorks, kam die göttliche Offenbarung über ihn, als er gerade elf Jahre alt geworden war (Bethel steht übrigens im Hebräischen für "Haus Gottes"). Der ältere Bruder hatte eine zentrale Single der Rockgeschichte ergattert, "Louie Louie" von The Kingsmen von 1963: "Okay, let's give it to 'em, right now!" Das brachiale und sehr laute Gitarrenriff ließ bei Thurston sofort die Haare lang wachsen. Mit der Fender Stratocaster seines älteren Bruders vor dem Bauch hängend, begann er fortan, die Welt nach mehr, nach viel, viel mehr "Louie Louie" abzusuchen.

Aggression und Energie

Es folgten der Umzug nach New York und weitere Erweckungserlebnisse in Clubs wie dem CBGB oder Max's Kansas City. Thurston Moore entdeckte bald auch das Evangelium von The Stooges namens "Raw Power". Vor allem aber begeisterte er sich für die Mitte der 1970er-Jahre aufkommende explosive Punkszene um Patti Smith oder die Ramones. Er erlebte nicht nur auf den Straßen der heruntergekommenen Lower East Side, dass sein Leben in Gefahr war. Bei Konzerten von Irren wie The Cramps, Black Flag oder Suicide ging es mit zwischen Bands und Publikum fliegenden Flaschen und Stühlen auch in der Musik nicht um die feine Klinge, sondern um Aggression und Energie. Wichtig war und ist: Wer landet den ersten Treffer?! Mit dem Einfluss der freien Improvisation aus der Avantgardeszene kam für Moore auch die Freiheit, sich nicht den Zwängen alter Spielarten zu unterwerfen. Hauptsache Krach.

Pitchfork

Das Leben in der Downtown-Szene mag damals zwar grindig gewesen sein. Man konnte aber andere Verrückte treffen, die ähnliche Ambitionen hegten. In "Sonic Life" tauchen mit seiner späteren Lebenspartnerin Kim Gordon, Lee Ranaldo und Bob Bert bald jene Leute auf, mit denen er nach glücklosen Anfängen Sonic Youth gründete und mit Alben wie "Confusion Is Sex" oder "Daydream Nation" bis 2011 herauf irgendwo in der Mitte zwischen Freitönerei, Punkhärte und offen gestimmten und malträtierten Schrottgitarren den Boden etwa für den Siegeszug von Nirvana bereitete.

Doppelleben

Man begegnet Sonic Youths strengem Mentor Glenn Branca oder Jean-Michel Basquiat, Jim Jarmusch, Gerhard Richter und Mike Kelley. Wir erinnern uns an damals wilde Neutöner wie Lydia Lunch, John Lurie, Arto Lindsay oder Michael Gira von den Swans (der lustigerweise einmal etwas mit Madonna hatte). Man wird Zeuge winterlicher Tourneen in ungeheizten Bussen – und schließlich erleben wir nach dem Aufstieg zu einer der zentralen Bands der letzten 40 Jahre auch den Fall von Sonic Youth dank eines Doppellebens von Thurston Moore. Das führte 2011 zur Scheidung von seiner Frau Kim Gordon und zum Ende der Band.

Andrei Ionescu

Bis auf die Sache mit der Scheidung erzählt Moore das alles mit einer Begeisterung, wie sie nur wahre Musikliebhaber haben können. Musik bleibt immer aufregend. Es gibt immer irgendwo auf der Welt ein Album oder ein Konzert einer unbekannten Band, das aufregend ist, weil man nicht müde wird, sich für Neues zu begeistern. Immer offen für alles bleiben! Die Suche nach dem einen jaulenden Gitarrenton, dem einen Feedbackkreischen, dem durchgebrannten Verstärker, der lustige Geräusche macht, oder dem einen Donnerakkord, der die Erdachse verschiebt, sie darf nicht aufhören. So, und jetzt gehen wir mit der Gitarre die Nachbarn ärgern. (Christian Schachinger, 22.11.2023)