Der Schuhmachermeister Ambros Strolz beginnt 1921 in seiner Werkstatt in Lech am Arlberg mit den Tüfteleien am Prototyp einer neuen Schuhgattung, die dem Sporthaus Strolz seinen weit über die Alpen hinausreichenden Ruhm verschaffen sollte. Bis in die Dreißigerjahre ging der sportive Abenteurer im Schneeloch Lech mit genagelten Wanderschuhen auf die Piste. Ambros Strolz dachte nach. Das musste sich ändern! Das musste man professioneller angehen! Also fertigte er in seiner Schuhmacherei Skischuhe aus gehärtetem Leder.

1955 entwickelt er mit dem Schnallensystem die nie mehr revidierte Grundtechnik der skialpinen Fußbekleidung. Fehlt noch eine weitere moderne Zutat bis zur Vollendung des legendären Strolz-Schuhs: Ende der Sechzigerjahre revolutionierte der Kunststoff die Welt des Industrie-, Bekleidungs- und Verpackungsdesigns. Außen am Schuh gab es jetzt Hartplastik, innen weichen Kunststoff – nicht geschüttelt, nicht gerührt, sondern: geschäumt. Ein Traum war das für jeden Problemfuß, denn der geschäumte Strolz-Schuh war gut zu Hühneraugen und gnädig zu Spreizfüßen.

Sagt man
Sagt man "Ich fahre nach Lech", meint man in der Regel die Summe anderer kleiner Skigebiete, die zusammen ein auch heute noch schneesicheres Traumland für Skicracks in extremer Höhenlage ergeben: St. Christoph, St. Anton, Zürs, Stuben, Warth, Schröcken, Zug.
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Wir Kinder hatten das alles nicht. Einen Strolz-Schuh trugen nur die Problemfüße der Erwachsenen, als wir Jahr um Jahr mit der Großfamilie des Ski-Club Taunus an den Arlberg fuhren, um dort im Schlepptau unserer Skilehrerväter die Hänge herunterzurasen wie nicht gescheit. Jedem, das wussten wir schon damals, stand sein eigener Materialfetisch zu. Unserer beschränkte sich vor der Carving-Revolution auf möglichst lange harte Skier sowie möglichst enge Schnallenschuhe, die gleichzeitig aber nicht die Blutzufuhr unterbanden.

Meinen letzten Skischuh habe ich mir mit achtzehn in Lech zugelegt. Es war ein rotes Modell der Marke Salomon. Ein schlanker Schuh mit einem feingliedrigen Schnallensystem aus geschraubtem Metall. Skischuhe mit Drehverschluss an der Ferse oder Plastikeinrastbändchen verachteten wir selbstverständlich. Mit dem Roten hatte ich meine besten Jahre auf der Piste. Vor jeder Abfahrt wurde kennerhaft an der Schnalle gedreht.

Herumstrolzen mit Skicracks

Sagt man "Ich fahre nach Lech", meint man in der Regel die Summe anderer kleiner Skigebiete, die zusammen ein auch heute noch schneesicheres Traumland für Skicracks in extremer Höhenlage ergeben: St. Christoph, St. Anton, Zürs, Stuben, Warth, Schröcken, Zug. Im mondänen Örtchen Lech mit rund 1.500 Einwohnern kann man nicht nur gut ausgehen, sondern auch als Königsfamilie ganz normal "herumstrolzen", wie der regionale Fachausdruck für den Einkaufsbummel im berühmtesten Sporthaus der Gegend lautet. Inzwischen wird es von der Enkelin des Schnallenschuherfinders geführt. Die Prototypen einer Textilkollektion aus dem Skizzenbuch des Onkels musste die kleine Olivia früher auf der Piste tragen. Das war oft lästig, erzählt sie uns an der Kaffeebar ihres Geschäfts, das mir heute – fünfundzwanzig Jahre nach meinem letzten Besuch – glanzvoller erscheint denn je.

"Vor jeder Abfahrt wurde kennerhaft an der Schnalle des Skischuhs gedreht." – Katharina Teutsch, Kulturwissenschafterin

Wir sind hergekommen, um Leihmaterial für die Kinder zusammensuchen. Mit Blick auf meine roten Schuhe sagte der Strolz-Mitarbeiter dann allerdings: "Die Mama auch!" Ein so alter Schuh könne jederzeit "aufplatzen", dramatisiert er die Situation, die Fahrerin sich selbst schwer verletzten. Es war, als verglühten zwei magische Objekte binnen Sekunden an einem magischen Ort zu einem Haufen Schrott!

In Oberlech, wohin wir eine Stunde später gemeinsam in Leihschuhen aufbrachen, würde ich jetzt mein neues Allerweltsfahrgefühl kennenlernen. Abseits der Après-Ski-Schickeria, an den Sonnenhängen von Petersbodenbahn und Kriegeralpe – immerhin.

Hier befindet sich auch die Skischule Oberlech – eine Institution, in der seit 1934 die vom Lokalheros Hannes Schneider erfundene Arlbergtechnik gelehrt wird, die schon früh ein internationaler Exportschlager bis nach Japan wurde.

Jahr um Jahr fuhren wir mit der Großfamilie des Ski-Club Taunus an den Arlberg, um dort im Schlepptau unserer Skilehrerväter die Hänge herunterzurasen wie nicht gescheit.
Jahr um Jahr fuhren wir mit der Großfamilie des Ski-Club Taunus an den Arlberg, um dort im Schlepptau unserer Skilehrerväter die Hänge herunterzurasen wie nicht gescheit.
Lech Zürs Tourismus

Jeden Tag schwärmen heute an die vierzig Skilehrer und Skilehrerinnen aus, die zum Teil mit exzentrischer Internationalität punkten können. "Travel and Work", sagt Max Weißengruber, der Leiter der Skischule, verschafft dem Bergführergewerbe Saisonarbeiter aus Australien, Argentinien oder Indien. Die exklusive Kundschaft weiß es zu schätzen.

Das Prinzip "ski in, ski out" führt jeden Alpinisten, der auf den Hängen in Oberlech unterwegs ist, irgendwann automatisch auf die Terrasse des legendären Sonnenhofs. Waltraud Hoch hat das Familienunternehmen, das vor mehr als hundert Jahren wie die meisten Hotels hier als Pension begonnen hatte, zu einem Ort weiterentwickelt, der die Vornehmheit eines Arlberger Sternehauses mit skandinavischem Pragmatismus und Perspektiven für das noch verhaltene Sommergeschäft verbindet. Im Sonnenhof kann man gediegen wohnen, saunieren und dinieren. Gleichzeitig ist alles auf Familien und deren Bedürfnisse ausgerichtet. Schließlich gilt es, den Nachwuchs an die Annehmlichkeiten eines Skiurlaubs in hochalpiner Premiumlage zu gewöhnen. Wer in Zukunft noch Wintersport mit Schneesicherheit betreiben will, muss hierherkommen.

Lyrischer Saunabereich

Vom Hotelpool bis zum Kinderklub mit allabendlichem Kinoprogramm, dem Schokoladenbrunnen beim Dessertbuffet und der letzten Schlittenfahrt des Tages hinterm Haus – gewissermaßen als Digestif der Kleinsten – wird an alles gedacht. Literatur allerdings ist das Herzensthema der Hochs.

Nicht nur die gemütliche Hausbibliothek hält einen behutsam aktualisierten Bücherschatz für alle Familienmitglieder bereit. Der Poolbereich beherbergt eine Sammlung zum Thema Wasser, der Saunabereich eine hochkarätige lyrische Bibliothek, die im Haus herumwandert wie sonst keine andere Rubrik. Seit zwei Jahren ist die Sonnenburg auch Austragungsort des Literaricums, eines Literaturfestivals, das im Sommer prominente Gäste wie Daniel Kehlmann und Elke Heidenreich zu Lesungen auf den Gipfel lockt. Obwohl es viel schneit in diesen Höhen, hat man auch in Lech verstanden, dass es ein Geschäftsleben jenseits des Skitourismus geben muss. Über Bilderbuchtage, Lesungen, Zeichenkurse und Astronomieworkshops für Kinder kann man sich auf der Webseite der Sonnenburg auf dem Laufenden halten. Auch die Kinder der Hoteliers profitierten, denn in Lech muss man seine Hobbys selbst organisieren.

Wer auf dem Arlberg ebenfalls auf die nachhaltige Kombination aus Kind und Buch setzt, ist die Familie Birk. Papa, Mama, Tochter und Schwiegersohn betreiben das Familienhotel Stäfeli im idyllischen Örtchen Zug, der nur wenige Minuten vom trubeligen Lech und vom elitären Oberlech entfernt ist. "Sei frech, wild und wunderbar" prangt in geschwungenen Lettern Astrid Lindgrens Motto an einer Wand der "Phantasiewelt": ein Raum voller Spiele mit einer abwaschbaren Wand für kleine Künstler, einer Fernsehecke – und jeder Menge gern genutzter Bücher für die Großen und die Kleinen. Dazu gibt es nachmittags eine ordentliche Jause aufs Haus. Wurst, Käse, Suppe, Kuchen.

In Socken stromern

Im Stäfeli verbringen die Kleinen nach dem Besuch in der "Kindersauna" die herrlichsten Nachmittage im Après-Ski-Modus. Während die Eltern im Restaurant Achtele zünftige hausgemachte Speisen serviert bekommen, kann der Nachwuchs auf Socken durchs Gebäude stromern, als hätten er nie woanders gewohnt und nie etwas anderes gewollt.

Der Reichtum, der in ähnlich noblen Skiorten wie etwa St. Moritz im Engadin zum Selbstzweck geworden ist, zeigt sich auf dem Arlberg eher von seiner diskreten und vor allem kinderfreundlichen Seite. Hoteliers wie Waltraud Hoch sind stolz, Mitglieder von Königshäusern mit der gehobenen Mittelschicht zusammenzubringen. Prinz Harry wollte, wie er in seiner gerade erschienenen Autobiografie schreibt, sogar Skilehrer auf dem Arlberg werden. Mit Lech verbindet er die schönsten Erinnerungen an seine verstorbene Mutter.

Meine schönsten Erinnerungen möchte ich am Schluss unserer Reise noch mit der Erinnerungsarbeit von Alpenhistorikern abgleichen. Dafür statten wir dem Lechmuseum einen nachmittäglichen Besuch ab. Hier kann man die Entwicklungsstufen des berüchtigten Strolz-Schuhs ebenso bewundern wie exzentrische Pistendirndln aus dem Hause Bogner. Auch Textilprototypen von Ambros Strolz dem Jüngeren sind zu sehen. Die Museumsleiterin Monika Gärtner lässt während ihrer Führung ein Jahrhundert Arlberger Skikultur Revue passieren, während sich die Kinder die beliebte Nähwerkstatt besuchen.

Der Reichtum, der in ähnlich noblen Skiorten wie etwa St. Moritz im Engadin zum Selbstzweck geworden ist, zeigt sich auf dem Arlberg eher von seiner diskreten und vor allem kinderfreundlichen Seite.
Der Reichtum, der in ähnlich noblen Skiorten wie etwa St. Moritz im Engadin zum Selbstzweck geworden ist, zeigt sich auf dem Arlberg eher von seiner diskreten und vor allem kinderfreundlichen Seite.
Bernadette Otter/Lech Zürs Tourismus

Ein Element der Dauerausstellung ist die Geschichtenecke. Hier können Urlauber, die sich ihre Ehrennadel durch jahrelange Ortstreue längst verdient haben, Accessoires aus ihrer Zeit im Skiparadies Lech platzieren. Hautenge Strickpullover, prähistorische Schneebrillen, Klamotten in Fehlfarben. Und plötzlich geht mir ein Licht auf. Ich erzähle Monika Gärtner nicht ohne Leidenschaft von meinen Schuhen, die noch immer beim Skiverleih Strolz herumstehen und auf ihre Beerdigung warten. Sie muss nicht lange überlegen.

Meine roten Flitzer sind jetzt Eigentum der Gemeinde Lech. Jeder kann sie im Huber Hus bewundern. Und ich kann sie dort besuchen, wenn ich will. Könnte es ein besseres Ende für diese Geschichte geben? Und ist es nicht erstaunlich, dass ich mich in meinen Leihschuhen sehr gut eingelebt habe, während ich im Schneepflug vor den Kindern den Petersboden hinunterrutschte wie einst Harrys Skilehrerin vor ihrem Zögling: Pizza, Pommes; Pizza, Pommes; Pizza, Pommes. Und danach im Sonnenhof ein Skiwasser aufs Skifahren! (Katharina Teutsch, 24.12.2023)