Der Kreml im Schnee.
Der Kreml im Schnee. "Das ganze Land ist ein einziges, großes Märchen. In diesem geht es sehr rau und sehr grausam zu, aber es ist ein Märchen", sagt Viktor Jerofejew über Russland.
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Sein Roman "Der große Gopnik" enthält nicht nur einen Abriss der eigenen Lebensgeschichte, sondern eine Abrechnung mit Putin: Viktor Jerofejew, Dichter und Diplomatensohn, verließ 2022, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, Russland. Er fuhr, die Familie im Gepäck, mit dem Auto über Finnland bis nach Deutschland. Als Autor im Exil hat Jerofejew seinen Optimismus nicht verloren: "Das System Putin kann nicht ewig währen. Ich bin überzeugt, auf sein Ende wird ein Tauwetter nach Art der Chrustschow-Ära einsetzen."

STANDARD: Trafen Sie eine spontane Entscheidung, als Sie im April 2022 aus Russland ausreisten?

Jerofejew: Keineswegs, es handelte sich auch um keinen Emigrationsakt. Ich bin daran gewöhnt, wechselweise in Frankreich und Russland zu leben, manchmal auch in Polen. Nach Kriegsbeginn hatten Sie in Moskau genau zwei Möglichkeiten. Sie konnten die Tatsache, dass Ihr Heimatland einen Angriffskrieg führt, hinnehmen. Oder Sie konnten "Goodbye" sagen. Für mich war dieser Krieg von Anfang an inakzeptabel, und so entschied ich mich dafür, meine Zeit in Europa zu verbringen. Ich war schon auf dem Weg nach Paris, als ich gute Angebote aus Deutschland bekam. Das gab schließlich den Ausschlag für Berlin.

STANDARD: Besaßen Sie vor Ihrem Aufbruch Anzeichen der Nachstellung durch Organe der russischen Zwangsmacht?

Jerofejew: Bis heute nicht. Als ich 1979 mit der Herausgabe des Literaturalmanachs "Metropol" meinen Hinauswurf aus dem Schriftstellerverband provozierte, konnte man mit Recht von Repression sprechen. Ich hatte auch mit anderen meiner Bücher Schwierigkeiten. An mir schieden sich früh die Geister, es gab immer Verächter meiner Arbeit.

STANDARD: Sie haben mit Blick auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine von einem Zusammenprall der Zivilisationen geschrieben: Der russische Autoritarismus trifft auf die westliche aufklärerische Tradition.

Jerofejew: Wir besitzen in Russland andere Existenzgrundlagen. Unsere Werte unterscheiden sich grundsätzlich von den europäischen, wie auch von den asiatischen. Wir leben im Zwischenhalt. Wir entlehnen manchmal die schlechtesten Eigenschaften von anderen, zum Beispiel ihre Totalitarismen. Dabei müssen wir von einem riesigen Eintopf sprechen. Wir machen intensiven Gebrauch von Europas Errungenschaften. Umgekehrt halten wir die Werte der Überlebenskunst besonders hoch. Einfach weil die Geschichte uns dazu gezwungen hat.

STANDARD: Worin bestehen diese Werte?

Jerofejew: Du fühlst dich gezwungen, Dinge zu sagen, an die du nicht glaubst. Du meinst, physische Stärke ausstrahlen zu müssen. Und du trinkst Wodka, um dich nicht schuldig zu fühlen. Vergleichst du normale Russen mit ebensolchen Europäern, wirst du nicht viele Unterschiede feststellen. Wir in Russland glauben jedoch an unsere Opferrolle. Immerzu sind es Mächte des Bösen, die uns heimgesucht haben sollen. Ich fürchte, besagte Mächte stammen von uns selbst.

Literatur Russland Ukraine-Krieg Putin
Viktor Jerofejew packte im April 2022 seine Familie und überquerte im Auto die Grenze nach Finnland: Ein Kosmopolit wartet auf das Ende der Ära Putin.
Julia von Vietinghoff

STANDARD: Welche Perspektiven tun sich im Moment für die Ukraine auf? Die Welt wird vom Nahost-Krieg in Atem gehalten. Kriegsmüdigkeit könnte den Ausschlag für Putin geben.

Jerofejew: Die beiden Kriege gehören zusammen, weil sie ein gemeinsames Schlaglicht werfen auf die menschliche Unzulänglichkeit. Für Russland ist der Ukrainekrieg das reinste Desaster: Er wird eine langanhaltende Isolation erzeugen. Wie lässt sich der Schlamassel auflösen? Russland und Ukraine sollten ihre Gesichtspunkte mit denjenigen von China und den USA abstimmen – schwierig, aber ich glaube, dass das nach wie vor möglich ist. Dieser Krieg ist auch für die Supermächte von Übel; aber sie allein besitzen aus eigener Machtvollkommenheit nicht die Möglichkeit, ihn zu beenden. Der Ukrainekrieg ist der noch gefährlichere. Die Ukraine ähnelt einer untreuen Frau, die vor ihrem Ehemann namens Russland davonläuft. Ein wirkliches Drama! Dagegen nimmt sich der Krieg zwischen Israelis und Arabern wie ein Konflikt um Territorialrechte aus. Die Ukraine und Russland müssen in irgendeiner Weise zu einer Übereinkunft finden. Natürlich nur in gewisser Weise, denn Russland ist der Aggressor. Die Ukraine muss danach ihren Weg nach Europa gehen.

STANDARD: Sie haben Wladimir Putin einmal als den Kehrbesen der russischen Eliten beschrieben, das ist bald 20 Jahre her. In Ihrem neuen Roman "Der große Gopnik" beschreiben Sie ihn als Gangsterboss.

Jerofejew: Natürlich hat sich die Einschätzung seiner Person verschiedentlich geändert. Er gleicht einem Schauspieler, der seine Rolle unablässig umschreibt. Putin ist der Schmierendarsteller eines grausamen Polittheaters. In meinem Buch taucht er als populäre Figur auf. Er hat nicht nur identifizierbare russische Eigenheiten, er ist obendrein ein KGB-Mann. Diese Prägung lässt sich an allen Einschätzungen ablesen, die er trifft. All das habe ich in mein Buch aufgenommen.

STANDARD: Warum nennen Sie den Roman ein "verwundetes, blessiertes Buch"?

Jerofejew: Weil der Krieg mein Buch versehrt hat. Ich habe aktuelle Kommentierungen in das Werk aufgenommen. "Wund" ist der Roman aber nicht im literarischen Sinn.

STANDARD: Sie haben Russland vor nicht langer Zeit als "inexistent" beschrieben. Irgendwo angesiedelt zwischen Notaufnahme und Leichenschauhaus. Was meinten Sie damit?

Jerofejew: Russland besitzt gar keine Geschichte im europäischen Sinn. Das ganze Land ist ein einziges, großes Märchen. In diesem geht es sehr rau und sehr grausam zu, aber es ist ein Märchen. Die Figuren und Darsteller wechseln ständig. Irgendwann war es Zar Peter, dann Iwan der Schreckliche, dann wieder Stalin, jetzt ist es Putin. Irgendwann stößt auch ein solches Märchen an seine Grenzen, einfach weil die Energie verpufft. Daher Russlands undankbarer Aufenthaltsort zwischen Notaufnahme und Morgue: Es ist tot. Wir alle stehen besorgt um Russlands Leichnam herum. Ein paar Emigranten fliehen die Gegenwart dieses Leichnams. Das ist die Situation, in der wir uns befinden. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 22.11.2023)