Darüber spreche man erst, wenn die Hamas besiegt ist: Mit dieser Standardantwort parierte Israels Regierungsspitze in den Wochen seit Kriegsbeginn alle Fragen, die darauf abzielten, was mit Gaza passieren solle, wenn der Krieg erst einmal vorbei sein werde. US-Präsident Joe Biden soll einigermaßen entnervt von der Abwehrhaltung Benjamin Netanjahus sein, wann immer es um die Zukunft Gazas geht. Hat Israel womöglich gar keinen Plan für den Tag danach?

Benjamin Netanjahu bei einem Truppenbesuch
Benjamin Netanjahu inszeniert sich zurzeit mit Vorliebe als Feldherr.
IMAGO/OFICINA DEL PRIMER MINISTR

Ganz konkrete Vorstellungen gibt es sehr wohl, und einige Vertreter der Regierungsparteien äußern sie allzu offenherzig. In internationalen Medien werden sie sodann auf und ab zitiert. "Die Welt und die UN sollen sich um sie kümmern" – also um die Menschen in Gaza, schlug Simcha Rotman von der Koalitionspartei Religiöse Zionisten am Montag im Interview mit dem TV-Sender BBC vor. Die Zivilisten in Gaza, die laut UN-Definition zu 75 Prozent Flüchtlingsstatus haben, weil ihre Vorfahren aus dem heutigen Israel vertrieben wurden, "sollen nicht von der UN in Gaza festgehalten werden", sagt Rotman. Mit anderen Worten: Man möge sie anderswo ansiedeln.

Diese Idee wurde in den vergangenen Wochen des Öfteren ventiliert. Landwirtschaftsminister Avi Dichter von Netanjahus Likud-Partei sprach sich für eine "zweite Nakba, eine Gaza-Nakba", aus. Als Nakba bezeichnet die palästinensische Geschichtsschreibung die Ereignisse rund um das Jahr 1948, als mehrere Hunderttausend Palästinenser aus dem heutigen Israel vertrieben wurden. Viele von ihnen siedelten sich damals im Gazastreifen an, wo ihre Nachkommen heute leben.

Umsiedlung in die Sinai-Wüste?

Hinter den Kulissen gibt es auch bereits konkret ausgearbeitete Pläne für ein massenhafte Umsiedlung. Ein Dokument, das aus dem israelischen Geheimdienstministerium geleakt wurde, sieht einen Bevölkerungstransfer vom Gazastreifen in die ägyptische Sinai-Wüste vor. Das würde einen offenen Konflikt mit Ägypten provozieren und erscheint daher als eher unrealistisches Szenario.

Trotzdem findet das Gedankenspiel, es könnte einst ein Gaza ohne Gazaner und Gazanerinnen geben, viele Anhänger – und nicht nur in der Regierung. In seltener Einigkeit veröffentlichten Ram Ben Barak von der größten Oppositionspartei Jesh Atid und Danny Danon von Netanjahus Likud-Partei einen offenen Brief, der im "Wall Street Journal" veröffentlicht wurde. Darin schlagen sie eine "freiwillige Absiedlung" der Zivilbevölkerung aus Gaza vor und rufen die westliche Welt dazu auf, Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufzunehmen.

Es bleibt nicht nur bei Rhetorik. Die Tatkräftigen unter den rechtskonservativen Meinungsstarken in der Regierung haben bereits konkrete Schritte unternommen. Eine von zwölf Knesset-Abgeordneten eingebrachte Gesetzesinitiative fordert nun, dass Israel im Gazastreifen Siedlungen baut. Solche Siedlungen gab es, bis die Regierung unter Ariel Sharon im Jahr 2005 beschloss, sich aus Gaza zurückzuziehen und alle jüdischen Dörfer abzusiedeln. Diesen Schritt möchten viele Rechtskonservative gerne rückgängig machen.

Das steht in klarem Widerspruch zum internationalen Recht und wäre auch ein Affront gegenüber Washington. Biden hat stets betont, dass er eine längerfristig Besatzung Israels in Gaza nicht akzeptiert.

"Dem Erdboden gleichmachen"

Ein Minister in Netanjahus Regierung, Amichai Eliyahu von der Partei Otzma Jehudit, schlug in einem Radiointerview sogar vor, eine Atombombe auf Gaza abzuwerfen. "Sie dem Erdboden gleichmachen und jeden Einzelnen dort eliminieren" – das schwebt dem Minister für jüdisches Erbe vor. Seine Äußerung brachte ihm zahlreiche Rücktrittsaufforderungen ein, Netanjahu entschied aber, ihn nicht zu feuern. Eliyahu wurde lediglich aufgefordert, sich bis auf weiteres von Regierungssitzungen fernzuhalten.

Als der Parlamentsabgeordnete Achmad Tibi fragte, warum keine Ermittlungen gegen Eliyahu eingeleitet wurden, stärkte Tali Gotliv, Abgeordnete von Netanjahus Likud-Partei, Eliyahu den Rücken: "Das ist eine legitime Äußerung", kommentierte sie den Atombomben-Sager.

Was die Phase vor dem Kriegsende betrifft, gab es immer wieder Forderungen, die sich mit den üblichen Beteuerungen, man bemühe sich um weitestmögliche Schonung der Zivilisten in Gaza, eher schlecht vertragen. Energieminister Israel Katz erklärte, in Gaza werde "kein Stromschalter betätigt, keine Wasserpumpe aktiviert und kein Treibstofftank hineingelassen werden, bis Israels Geiseln zu Hause sind". Selbst Israels Staatspräsident Yitzhak Herzog erklärte vor Journalisten, die Zivilbevölkerung in Gaza sei nicht so unschuldig, wie oft behauptet werde: "Sie hätten sich ja längst gegen die Hamas auflehnen können."

Die Fantasie einer Massenvertreibung von Palästinensern aus dem Gazastreifen, die von den extremen Kräften im israelischen Parlament seit Wochen am Leben gehalten wird, ist aber wohl wenig mehr als rechtskonservatives Wunschdenken. In der arabischen Welt werden diese Äußerungen jedoch aufmerksam verfolgt und mit Besorgnis gehört. Um eine längerfristige Lösung für Gaza zu erarbeiten, wird Israel auf die Kooperation seiner alten und neuen arabischen Partner angewiesen sein. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 30.11.2023)