Es hat durchaus Vorteile, bestimmte Industrien wie jene für Metall, Medikamente und Mikrochips im eigenen Land zu haben. Wortmeldungen dazu fand man von Frankeichs Präsident Emmanuel Macron, Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez und Österreichs Ex-Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck parteiübergreifend schon im vergangenen Jahrzehnt. Die Botschaft: Holen wir die Industrie nach Europa zurück! Seit Pandemie, russischer Aggression und unsicher gewordenen Lieferketten bekam das Thema allerdings eine noch viel höhere Dringlichkeit.

"Unternehmen denken die Geopolitik bei Investitionen und Lieferketten immer mehr mit. Die politische Lage war bei Unternehmen vor zehn oder 15 Jahren oft nicht einmal auf der Liste", sagt Ökonom Klaus Friesenbichler vom Wifo zum STANDARD. Manchmal führen die Überlegungen auch dazu, dass man eine Industrie im eigenen Land entweder neu hochzieht oder zurückholt, wie Beispiele der jüngeren Vergangenheit zeigen.

Angereichertes Uran kommt als Brennstoff in Atomkraftwerken zum Einsatz
Angereichertes Uran kommt als Brennstoff in Atomkraftwerken zum Einsatz.
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1. USA wollen keinen AKW-Brennstoff aus Russland mehr – und machen ihn selbst

Zum ersten Mal seit 70 Jahren produzieren die USA eine spezielle Form von angereichertem Uran selbst. Bisher beziehen sie den Brennstoff für ihre Atomkraftwerke (AKWs) aus Russland – aber nicht mehr lange. Die Firma Centrus Energy hat im Oktober im Bundesstaat Ohio wieder mit der kommerziellen Herstellung von Brennstoffen für AKWs begonnen, berichtet das Fachmagazin "IEEE Spectrum". Das speziell angereicherte Uran heißt Haleu (High-Assay Low-Enriched Uranium) und wird in AKWs neuen Typs gebraucht. Bisher war der weltweit einzige Produzent von Haleu der russische Staatskonzern Tenex.

Bis Ende des Jahres will Centrus Energy rund 20 Kilogramm herstellen, 2024 sollen es dann 900 Kilogramm sein. "Wir möchten verhindern, dass unsere Abhängigkeit von russischen Brennstoffen steigt", sagte Kathryn Huff, Leiterin des Büros für Nuklearenergie im US-Energieministerium. Langfristig will das Ministerium jährlich 25 Tonnen bestellen, um die amerikanische Haleu-Produktion zu sichern. Zur Einordnung: Ein althergebrachtes AKW mit 1000 Megawatt Nennleistung braucht jährlich rund 20 Tonnen angereichertes Uran. AKWs mit Haleu sind allerdings effizienter.

Mit seiner Gigafabrik in Douvrin will Frankeich im Markt der E-Mobilität mitmischen
Mit seiner Gigafabrik in Douvrin will Frankeich die Produktion von Batterien für E-Autos peu à peu hochfahren.
ACC Automotive Cells Company

2. Frankreich weiht Gigafabrik für Batterien ein

Im Mai ist die erste Fabrik für E-Batterien in Frankreich eröffnet worden. Das nordfranzösische Départment Pas-de-Calais, wo viele Jobs in der Pharma-, Stahl- und Papierindustrie verlorengegangen sind, soll nun eine bedeutende Region für Europas Autoindustrie werden. Frankreichs Regierung spricht von einer sogenannten Gigafabrik – Giga ist eine große Maßeinheit, üblich etwa bei Energie und Speicherplatz.

Bruno Le Maire, Wirtschaftsminister im Kabinett Macron, sagte bei der Eröffnung in Douvrin: "Zum ersten Mal seit Airbus rufen Frankreich und Europa einen neuen Industriezweig ins Leben." Mittelfristig sollen dort jährlich 800.000 Lithium-Ionen-Batterien gefertigt werden.

Hinter der französischen Fabrik steht das internationale Unternehmen ACC, eine Gründung der Autokonzerne Stellantis und Mercedes-Benz sowie des Batterieherstellers Saft. ACC plant zwei weitere E-Batteriewerke im deutschen Kaiserslautern und im italienischen Termoli.

Portugal hat sich bereits in den Zehnerjahren bemüht, seine einst blühende Fahrradindustrie zurückzuholen
Portugal hat sich bereits in den Zehnerjahren bemüht, seine einst blühende Fahrradindustrie zurückzuholen.
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3. In Portugal werden Fahrräder nun von Robotern geschweißt

Seit 2017 werden in Portugal wieder Fahrradrahmen im großen Stil produziert. Mehrere Unternehmen taten sich zusammen und gründeten gemeinsam das Unternehmen Triangle's. Ihr Ziel: die einst blühende und nach China abgewanderte Fahrradindustrie Portugals heimzuholen. Eine Autostunde südlich von Porto, auf 20.000 Quadratmetern, werden die Rahmen aus Aluminium gefertigt. Rentabel ist das laut den Fabrikleitern nur, weil die Herstellung vollautomatisch läuft – nun schweißen Roboter statt billiger Arbeitskräfte in Asien.

Europa unter Druck

Obwohl über der europäischen Wirtschaft Gewitterwolken wie der Ukrainekrieg, hohe Energie- und Produktionskosten sowie geopolitische Konflikte hängen, sei "Europas Industriesektor nach wie vor relativ stark und in einzelnen Bereichen ziemlich gut positioniert", sagt Ökonom Friesenbichler. "Von einer Deindustralisierung in Europa kann man nicht sprechen."

Ein Blick auf die Industriequoten laut Eurostat zeigt, dass diese über die Jahre hinweg gesunken sind, aber meist nur leicht. In Österreich lag der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung 1995 bei 19,9 Prozent und im Jahr 2022 bei 17,7 Prozent. In Deutschland sank er im gleichen Zeitraum von 22,7 Prozent auf 20,4 Prozent. Und im heutigen EU-Raum (27 Staaten, ohne Großbritannien) lag die Industriequote im Jahr 1995 bei 20,0 Prozent, im Vorjahr bei 16,8 Prozent.

Dass die Industriequoten sinken, könne in der Geschichte regelmäßig beobachtet werden, erklärt Friesenbichler. "Wenn ein Land noch früh in seiner industriellen Entwicklung steht, ist die Landwirtschaft ein großer Brocken des Bruttoinlandsprodukts. Wenn das Land wohlhabender wird, steigt zunächst der Anteil der Industrie und drängt die Agrarwirtschaft im BIP zurück. Ab einem gewissen Zeitpunkt geht die Industriequote wieder zurück und jene der Dienstleistungen nimmt zu."

Zurück zur Fabrik?

Ist wegen Krisen, Kriegen und Unwägbarkeiten eine Renaissance der Industrie in Europa zu erwarten? Für eine Antwort ist es laut Friesenbichler zu früh, denn Industriequoten seien Ergebnisse von langfristigen Trends. "Es ist schwierig, aus der Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und anderen Krisen bereits etwas für Industriestrukturen abzuleiten. Ob es einen Paradigmenwechsel zu mehr Industrie in Europa gibt, ist schwer zu sagen."

Dass Österreich, Deutschland oder Frankreich – auf unterschiedlichen Niveaus – versuchen, Industrien zu halten, überrascht Wirtschaftsforscher Friesenbichler freilich nicht. "Es ist einfacher, auf eine bestehende Struktur aufzubauen", sagt er. "Wenn ein Land bereits eine Autoindustrie hat, kann es versuchen, in bestehenden Strukturen auch andere Automobile zu produzieren. Wenn ein Land eine Stahl- oder Chemieindustrie hat, kann es sich zum Beispiel leichter mit grünem Wasserstoff beschäftigen."

Insofern gilt wohl wie im Fußball: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, und nach der alten Industrie ist vor der neuen Industrie. (Lukas Kapeller, 29.11.2023)