Die Vorstellung, dass es abseits der Hamas im Gazastreifen noch radikalere Organisationen gibt, wird seit den Gräueln des 7. Oktober relativiert. Die Hamas saß beim Terrorüberfall auf Israel klar im Führersitz, auch wenn sich Angehörige anderer Gruppen beteiligt haben mögen. So heißt es, dass sich auch einige der israelischen Geiseln in Gewahrsam der Organisation Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) befinden sollen, der sich der zweiten Angriffswelle nach Israel angeschlossen hatte und selbst Personen verschleppte.

Ob die Hamas noch über alle Details Kontrolle hat und weiß, wo welche Geiseln sind, darf auch im Lichte der gewaltigen Zerstörungen der israelischen Militärkampagne der letzten Wochen bezweifelt werden. Der Islamische Jihad soll jedoch den mit Israel geschlossenen Deal mittragen. Es besteht die Vermutung, dass der PIJ insofern an den Vorbereitungen des 7. Oktober beteiligt war, als er in der vergangenen Zeit manchmal als die aggressivere Gruppe auftrat – etwa beim Beschuss Israels mit Raketen – und damit die israelische Aufmerksamkeit von der Hamas ablenkte.

Ein Kämpfer des Palästinensischen Islamischen Jihad in Jenin im Westjordanland. Dort steigt der Einfluss der Organisation.
AFP/ARIS MESSINIS

Hamas und Palästinensischer Islamischer Jihad teilen das Ziel: die Vernichtung Israels. Der PIJ ist ein paar Jahre älter als die Hamas, aber beide sind ein typisches Produkt der 1980er-Jahre. Beide werden vom Iran unterstützt. Die von den schiitischen Mullahs unter Ayatollah Khomeini usurpierte Revolution im Iran von 1979 war eine Inspiration für Islamisten jeder Couleur, auch der sunnitischen. Nach 1979 – wo noch dazu der israelisch-ägyptische Friede geschlossen wurde und die Sowjets nach Afghanistan einmarschierten – boomten die jihadistischen Gruppen, viele davon panislamisch.

Der Hamas, die als der spezifische palästinensische Arm der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründet wurde, wird jedoch gemeinhin ein nationaler Ansatz zugesprochen. Allerdings gibt es nun vermehrt Fantasien aus ihrem Eck, dass ein palästinensischer islamischer Staat unter Hamas-Führung Teil eines weiter gefassten islamischen Projekts wäre.

Ein Unterschied zwischen Hamas und PIJ ist, dass Letzterer als rein militante Organisation auftritt, das heißt, er übernimmt, anders als die Hamas, keine sozialen und keine höheren Verwaltungsaufgaben. Das führt, mangels Infrastruktur, dazu, dass er nicht so tief in die Gesellschaft, in die Familien hineinwirkt, aber dadurch auch weniger verletzlich ist. Der PIJ muss noch weniger Rücksicht als die – gegen das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung weitgehend immune – Hamas nehmen. Und er ist dadurch vielleicht umso attraktiver für radikale junge Menschen, denn er wird nicht am Funktionieren ziviler Strukturen gemessen. Die Universitäten sind ein politisches Betätigungsfeld des PIJ, da mischt er sogar in Studentenwahlen mit.

Neuer Einfluss im Westjordanland

Der PIJ ist nicht nur im Gazastreifen präsent, mit der Schwäche und Lähmung der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas im Westjordanland fasste er in der letzten Zeit dort vermehrt Fuß. Es gibt in den Städten, vor allem in Jenin, neue militante Gruppen, die im Widerspruch zur Palästinenserbehörde stehen. Vorgeblich sind sie unabhängig, aber es wird vermutet, dass der Islamische Jihad hinter ihnen steckt, auch wenn sie nicht die islamische Ideologie vor sich hertragen.

Als Gründer des PIJ gilt der 1951 in Rafah als Sohn von Flüchtlingen geborene Arzt Fathi Shikaki, der in den 1970ern in Zagazig in Ägypten Medizin studierte und sich dort der Muslimbruderschaft anschloss. In Zagazig, wo Palästinenser gratis studieren konnten, gab es eine heftige islamistische Studentenszene, dort traf Shikaki auch auf Abdulaziz al-Awda, ebenfalls aus dem Gazastreifen, den Co-Gründer des PIJ. Allerdings wurde von den Muslimbrüdern Shikakis und Awdas Begeisterung für Khomeini, dem Shikaki 1979 das Buch "Khomeini – Die islamische Lösung und die Alternative" widmete, als zu schiitenfreundlich kritisiert, das führte letztlich zum Bruch.

Nähe zum Iran

Die PIJ-Organisation im Gazastreifen entstand aus anfangs verstreuten Untergrundgruppen. Ihre ersten Angriffe auf israelische Ziele im Gazastreifen – der bis 2005 von Israel besetzt war – fanden bereits 1984, also drei Jahre vor dem Aufkommen der Hamas, statt. Shikaki wurde, wie andere Palästinenser, in den späten 1980er-Jahren von Israel in den Libanon deportiert, worauf sich die Kontakte zum Iran noch verstärkten und PIJ-Kämpfer bei der schiitischen libanesischen Hisbollah ausgebildet wurden. 1989 wurde das Hauptquartier nach Damaskus verlegt. 1992 wurden die Al-Quds-Brigaden aufgestellt.

Wie die Hamas lehnte der PIJ den israelisch-palästinensischen Friedensprozess von Oslo kategorisch ab und begann 1995, Terrorangriffe auch innerhalb Israels zu verüben. Shikaki wurde 1995 bei einem Aufenthalt in Malta von einem Mossad-Agenten getötet, eine Vergeltungsaktion für einen von zwei PIJ-Mitgliedern verübten Selbstmordanschlag, bei dem mehr als 20 israelische Soldaten getötet worden waren.

Der jetzige PIJ-Generalsekretär heißt Ziyad al-Nakhalah, ist 1953 geboren und erst der dritte Generalsekretär der Organisation. Sein Vorgänger Ramadan Shallah, der 1995 Shikaki beerbt hatte, erlitt 2018 einen Schlaganfall. Nakhalah wurde erst im Februar 2023 "wiedergewählt". Nakhalah hat mindestens 14 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht, auch er kam – wie Hamas-Führer Yahya Sinwar – im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei, und zwar schon 1985. Damals wurden für drei israelische Soldaten 1150 palästinensische und libanesische Häftlinge freigelassen. (Gudrun Harrer, 23.11.2023)