Eine bürgerliche Interessengemeinschaft, erotisch verbrämt: Frankreichs Kaiser Napoleon (Joaquin Phoenix) und seine Josephine (Vanessa Kirby).
Eine bürgerliche Interessengemeinschaft, erotisch verbrämt: Frankreichs Kaiser Napoleon (Joaquin Phoenix) und seine Josephine (Vanessa Kirby).
AP/Aidan Monaghan

Die Politik sei das unentrinnbare Schicksal aller: Diese für das moderne Selbstbewusstsein bedeutsame Einsicht leitete Napoleon Bonaparte aus der eigenen Allmacht ab – zu Anfang des 19. Jahrhunderts, angekommen auf höchstem Ruhmesgipfel, ein Sieger auf unzähligen Schlachtfeldern. Mitunter jedoch spielt Politik gerade jenen übel mit, die sie zu lenken meinen. Diese Erkenntnis gewinnt der "kleine" korsische Emporkömmling – der historischen Wahrheit nach ein völlig normalwüchsiger Mann – aus eigener Anschauung.

Den Auftakt zu Ridley Scotts monumentaler "Napoleon"-Filmbiografie bildet ein Lehrbeispiel schwarzer Pädagogik. Wir befinden uns im vierten Jahr der Französischen Revolution. Tugendschwätzer preisen vor dem Pariser Konvent die Guillotine. Man zerrt die Österreicherin Marie Antoinette 1793 aufs Schafott. Scott, ein Meister wegwerfender Bildgesten vor dem Hintergrund bewegter Massen, zeigt den schutzlos nackten Hals von Frankreichs Königin. Das Haupt plumpst in den Korb, der Henker reißt es triumphierend in die Höhe. Der (historisch nicht verbürgte) Augenzeuge Bonaparte sieht zu, wie das Mahlwerk der Politik auf ganz normale Betriebstemperatur kommt.

Zufälliges Heldenstück

Joaquin Phoenix ist als der Titelheld ein schon zu Anfang reifer, abgrundtief ermüdeter Mann. Es sind doch einige Herrschaftsjahre vergangen seit seiner Verkörperung des Commodus in Scotts "Gladiator". Wenn, wie so häufig, auf Bonapartes Befehl hin Kanonen gezündet werden, hält dieser Pragmatiker sich umgehend die Ohren zu. Sein Jugendwerk, die Erstürmung der Festung Toulon 1793, ist ein zufälliges Heldenstück: Eine Geschützkugel zerreißt das Pferd unter dem Generals-Azubi. Klein-Napoleon macht zu Fuß weiter. Er keucht vor Angst. Er ist, obwohl noch kaum in der Weltpolitik angekommen, jetzt schon ein Greis.

Er hat jedoch vorher kaputte, unbrauchbare Kanonen in lauter kleine, zweckdienliche Mörser umschmelzen lassen. Richtiges Handeln zum richtigen Zeitpunkt: Dieser ein wenig hölzern wirkende Mittelmeer-Insulaner mag schwere Augenlider haben. Den Ausschlag für seinen Aufstieg gibt die Bereitschaft zu grenzenloser Flexibilität. Die Revolution stößt mit Macht das Tor auf für nachrückende Kapitalismusgewinner: Es handelt sich um Ehrgeizlinge, die die Allüre ihrer aristokratischen Widersacher wuchtig beiseitefegen. Politik ist nicht nur Schicksal, sie ist ursachenbasiert und folgt physikalischen Gesetzen.

Keine Heldenoper

US-Regisseur Ridley Scott hat keinen weiteren Sandalenfilm gedreht, auch keine Heldenoper für einen Charismatiker in Knobelbechern. Kein einziges Mal schiebt Phoenix die Hand durch die Knopfleiste. Den ikonischen Zweispitz löchert in Waterloo die Kugel eines Scharfschützen: Zufall, wie so vieles andere in dieser völlig unwahrscheinlichen kaiserlichen Heldenvita. Zumindest 130 Millionen Dollar wurden, den Apple Studios sei Dank, in das Filmprojekt investiert. Die ohnehin stolze Dauer von zweieinhalb Stunden soll durch einen Director's Cut auf insgesamt vier Stunden ausgedehnt werden.

Sony Pictures Entertainment

Nicht eine Minute davon ist verschwendet. Scheint sein Aufstieg auch unaufhaltsam, so bildet dieser Mann im grauen Mantel für sich selbst das größte Rätsel. Die Rahmung gibt ausgerechnet die Liebesgeschichte mit Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) ab. Die beiden kettet alsbald eine Amour fou aneinander: Darunter muss man, im Zeitalter einsetzender Desillusionierung, vor allem eine Zweckgemeinschaft verstehen.

Tollpatschig beschläft Napoleon seine Angebetete. Nicht die "ars amandi" steht im Vordergrund, sondern die Schaffung eines Erben und Kronprinzen. Die Leistung wird nicht erbracht, also muss der Kriegsherr tränenreich die Scheidung vollziehen. Den Rest besorgt ein ausgedehnter Briefverkehr: Intimität, so lehrt Scott, entsteht nicht durch Sentimentalität, sondern durch Korrespondenz.

Telepathische Beziehung

Doch müssen auch Weltveränderer sich dynastischen und anderen Konventionen fügen. Mit dem vielzitierten Hegel'schen Weltgeist unterhält der Korse eine bestenfalls telepathische Fernbeziehung. Auf dem Ägyptenfeldzug, aus Anlass der Öffnung eines Sarkophags, begegnet ihm der gut erhaltene Leichnam einer Nofretete. Treuherzig neigt ihr der General das Ohr hin. Die Mumie jedoch offenbart ihm kein Betriebsgeheimnis. Sie rutscht seitlich weg.

Nichts an diesem neuen "Napoleon" ist exotisch. Phoenix besitzt auch nicht den übersäuerten Magen von Rod Steiger, der einen betont mürrischen Kaiser in "Waterloo" (1970) verkörperte. Scott erspart einem keine der wichtigsten Metzeleien: die Blutbäder von Austerlitz (1805) oder Borodino (1812), die allesamt von der verheerenden Wirkung erhöhter Feuerkraft auf viel zu dicht gestaffelte Angehörige der Massenarmeen erzählen. Dariusz Wolskis "Auge" liefert dazu die bestürzenden Kamerafahrten.

Taucht Napoleon selbst im Getümmel auf, dann als Entgeisterter. Ein fiebrig Erregter, von dem man nicht zu sagen wüsste – treibt er das Schwungrad der Geschichte an? Ist er der Getriebene? Die überwiegende Mehrzahl seiner kostümierten Mitspieler scheint sich über das Wesen dieses "Weltgeistes zu Pferd" selbst nicht im Klaren. Man verschifft das Enigma in Menschengestalt schließlich 1815 nach St. Helena, eine Felsklippe inmitten des Atlantischen Ozeans. Dort rutscht er irgendwann, vom Glück und von allen guten Geistern verlassen, vom Stuhl.

Sein liebstes Wort in diesem ebenso geistreichen wie überwältigenden Epos: "Schicksal". (Ronald Pohl, 22.11.2023)