Megasyllis nipponica
Der hintere Teil des Wurmes entwickelt ein Eigenleben und schwimmt zur Fortpflanzung einfach weg.
Nakamura

Um Lebewesen zu studieren, die in ihrer Merkwürdigkeit von einem fremden Planeten stammen könnten, muss man nur einen Blick in die Weltmeere werfen. Außerirdisch oder zumindest wie aus einem Horrorfilm wirkt auch der zur Familie der Sylliden gehörende Meereswurm Megasyllis nipponica. Seit seiner Entdeckung in den 1960er-Jahren verblüfft er Forschende mit einer Eigenheit. Denn er trennt sich im Laufe seines Lebens von seinem Hintern, der nicht nur zur Reproduktion wegschwimmt, sondern sogar eigene Augen entwickelt.

Zweiter Kopf im Körper

Das Phänomen, dass manche Ringelwürmer ihren eigenen Körper oder einzelne Körperteile davon zur Fortpflanzung umwandeln, ist gut dokumentiert. Auch dass sich wie im Fall von Megasyllis nipponica ein Fortsatz, ein sogenannter Stolo, bildet, der sogar in der Lage ist, eigenständig wegzuschwimmen, ist kein einzigartiger Vorgang. Auch im Falle des japanischen Meereswurmes trägt dieser Fortsatz Spermien oder Eier in sich. Nach seiner Ablösung vom Originalkörper ist er in der Lage, mit eigenem Antrieb zu schwimmen, um sich auf die Suche nach anderen Stolonen zu machen und so die Reproduktion zu sichern.

Was die Forschenden bisher aber vor ein Rätsel stellte, ist der Mechanismus, wie sich die Augen, Fühler und Schwimmborsten bereits entwickeln können, wenn doch der Fortsatz noch integraler Teil des Wurmes ist. Er fungiert dabei bis zuletzt als Hinterteil für den Wurm, an dem bis zur Abtrennung auch die Ausscheidung des Wurmes stattfindet. Kurz bevor der Fortsatz sich vom Hauptkörper trennt, entwickelt er Nervenzellen, um seine Umgebung mit seinem "Mini-Gehirn" wahrnehmen und unabhängig vom ursprünglichen Körper agieren zu können. Der ursprüngliche Ausscheidungskanal entwickelt sich sukzessive zurück.

Kuriose Besonderheit im Tierreich

Ein Forschungsteam um Toru Miura von der Universität Tokio fand heraus, dass die bei Tieren normalerweise im oberen Körperbereich vorkommenden Genexpressionen, die für das Kopfwachstum zuständig sind, bei den rätselhaften Würmern plötzlich im mittleren Segment vorkommen. Diese sind ab dem Zeitpunkt nachzuweisen, wenn es zur sexuellen Reife der Tiere und der Ausbildung ihrer Reproduktionsorganen, der sogenannten Gonaden, kommt.

Dass die beim Großteil aller Lebewesen im Tierreich vorkommenden Entwicklungsschritte bei diesem Meereswurm so modifiziert werden, dass er quasi in der Mitte seines Körpers einen neuen Kopf wachsen lassen kann, sei ein beeindruckendes Beispiel für Tiere mit solch einzigartigen Reproduktionsmechanismen, teilte Miura mit.

Schwimmender Megasyllis nipponica.
Der hintere Teil des Wurmes entwickelt einen eigenen Kopf und schwimmt dann weg.
Nakamura

Abgesehen von den gefundenen Genexpressionen waren die Forschenden auch darüber erstaunt, dass der Fortsatz praktisch alle Eigenheiten, vom Verdauungstrakt bis hin zu den einzelnen Ringsegmenten, vom Originalkörper übernimmt und diese sich auch während des Abnabelungsprozesses nicht verändern. Für die Abtrennung vom restlichen Körper sind die sogenannten Hox-Gene zuständig. Dem Forschungsteam zufolge, das die Ergebnisse im Fachjournal "Scientific Reports" publizierte, dürfte zum Zweck der Reproduktion offenbar nur der Kopf in der Mitte des Tieres als neues Element eingefügt werden.

Weitere ungelöste Fragen

Auch wenn einige der grundlegenden Entwicklungsschritte bei dem Meereswurm nun erstmals entschlüsselt sind, ist den Forschenden immer noch nicht klar, welche hormonellen und anderen Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass aus dem Hinterteil weibliche oder männliche Reproduktionsorgane werden. In weitführender Forschung soll nun herausgefunden werden, unter welchen Voraussetzungen sich Stolonen mit Spermien oder Eiern bilden. (Martin Stepanek, 23.11.2023)