Wie kam es dazu, dass sich die ehemals linke Arbeiterschaft von Rechtspopulisten einfangen ließ? Dieser Frage geht der neue – und letzte – Film von Ken Loach nach.
Wie kam es dazu, dass sich die ehemals linke Arbeiterschaft von Rechtspopulisten einfangen ließ? Dieser Frage geht der neue – und letzte – Film von Ken Loach nach.
Sixteen Films Limited, Why Not Productions

Ken Loach ist unbestritten einer der großen Sozialrealisten des Kinos. Die Filmografie des 1936 geborenen Briten umspannt sieben Jahrzehnte, er zählt in Cannes zu den am meisten ausgewählten Regisseuren, er ist bekennender Sozialist, wenn nicht gar Marxist. Was ihn aber auszeichnet, ist, dass seine politische Einstellung sein Werk nicht in Form von Dogmatik durchwirkt, sondern in Gestalt einer humanistischen Empfindsamkeit.

Immer stehen Menschen, die an der Ungerechtigkeit eines oppressiven Systems leiden, im Mittelpunkt seiner Filme. Deren Drehbücher stammten seit Mitte der 1990er-Jahre aus der Feder von Paul Laverty, einem ehemaligen Menschenrechtsanwalt schottisch-irischer Herkunft. Die freundschaftliche Zusammenarbeit wurde in Cannes mit zwei Goldenen Palmen gekrönt: 2006 für The Wind That Shakes the Barley, der von den irischen Unabhängigkeitskriegen erzählt, 2016 für I, Daniel Blake.

Mit I, Daniel Blake gelang dem Duo ein rigoroses Porträt eines arbeitsunfähigen Mannes, der genötigt wird, wieder auf Arbeitssuche zu gehen. Auch der Folgefilm Sorry We Missed You nimmt sich eines aktuellen Themas an: der "Gig-Economy", des Versprechens der Scheinselbstständigkeit, die einen Paketauslieferer in einen 14-Stunden-Tag und völlige Ausgebranntheit zwängt. Der geschärfte Fokus Loachs und Lavertys auf den Status quo der britischen Gesellschaft scheint dem Brexit geschuldet zu sein sowie ­Loachs neuerlichem Eintritt in die Labour Party 2017 und seinem Einsatz für Jeremy Corbyn. Corbyn trat 2019 nach einer Wahlniederlage zurück, Loach wurde mit anderen 2021 aus der Partei ausgeschlossen. Ein Grund: Er teilte die Israel-kritische Haltung vieler Altlinker.

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In seinen Spielfilmen ist von diesen innerparteilichen Kämpfen wiederum wenig zu spüren. Sein aktueller, The Old Oak, bildet nach I, Daniel Blake und Sorry We Missed You das dritte Stück eines Triptychons über die ausgelaugte britische Zivilgesellschaft und stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich eine ehemals linke Arbeiterschaft von Rechtspopulisten einfangen ließ. Der Film spielt in einer alten Kohlestadt in Nordengland, in der syrische Kriegsflüchtlinge angesiedelt werden. Das führt zu sozi­alen Unruhen und später, nach einem vorsichtigen Kennenlernen, zu einer Art Utopie: die Stadt, Jung, Alt und Neuangesiedelte, vereint unter den Bannern der Arbeiterschaft.

In Solidarität vereint

Der 87-jährige Loach meint es diesmal offenbar ernst. Das Ende seiner Filmografie soll nicht die Verzweiflung des Paketboten zeigen, der zusammengeschlagen und ausgebrannt in sein Auto steigt, weil er keinen anderen Ausweg als die Arbeit weiß. Das Schlussbild soll "eine organisierte und in Solidarität vereinte Arbeiterschaft" sein. Das zumindest verraten Loach und Laverty bei einem Gespräch mit dem STANDARD in Cannes, wo der Film letzten Mai Premiere feierte.

The Old Oak, erklärt Laverty, stehe nicht nur für einen jener wenigen Pubs, die die Pandemie in den ländlichen, vernachlässigten Regionen überstanden hätten. Er sei auch "ein Symbol für die schlechte Verfassung Englands". Im Film steht der titelgebende Pub denn fast leer, die Gespräche der wenigen Gäste erschöpfen sich in Fremdenhass und der Aussichtslosigkeit der eigenen Lage.

Enorm wichtig sei es gewesen, die Menschen in der Stadt zu verstehen, Sympathie mit ihnen zu haben, sagt Laverty außerdem: "Wenn sich deine Nachbarschaft grundlegend verändert, du dich nicht mehr wohlfühlst, aber auch nicht wegziehen kannst, weil dein Haus vollkommen an Wert verloren hat: Was tust du dann?" Den Menschen der ehemaligen Kohlestadt mangele es an Mitsprache, die Älteren hätten ihre Gemeinschaft verloren, die Jüngeren kannten sie nie.

Gegen Rassismus und Gewalt

An einem solchen Ort hochgradig traumatisierte Kriegsflüchtlinge anzusiedeln, deren Geschichten – ­Loach arbeitete ausschließlich mit Laien – von teils unsagbaren Grauen zeugten, sei fatal. Aber in The Old Oak geht es eben darum, einen anderen Ausweg vorzuzeichnen als die Empfänglichkeit für Rassismus, Gewalt und rechtspopulistische Politik. Schließlich zeichne sich die Arbeiterklasse seit eh und je auch durch Solidarität aus, betont der Regisseur. Und ebendie könne nur in einem öffentlichen Begegnungsraum entstehen. Deshalb ist der Film auch eine Ode an den Pub, der in der besagten Stadt schon die Versammlungsküche während eines historischen Kohlearbeiterstreiks war und nun wieder zum Ort der Gemeinschaft wird. Die Logik: Dort, wo Menschen gemeinsam essen, kommen sie zusammen.

Hofft nach wie vor auf die Solidarität in der Arbeiterklasse: Regisseur Ken Loach.
Hofft nach wie vor auf die Solidarität in der Arbeiterklasse: Regisseur Ken Loach.
IMAGO/Matteo Nardone

So wohlmeinend die Prämisse auch ist, ganz geht die Geschichte nicht auf. Sie krankt an der Tatsache, dass das sozialrealistische Kino immer ein wenig betulich wirkt, sobald es von Hoffnung erzählt. Das utopische Schlussbild der geeinten Gemeinde von The Old Oak wirkt denn auch wie dasjenige des Neorealisten Vittorio de Sica in Miracolo a Milano, in dem die Ärmsten der Armen in den Himmel aufsteigen: wie eine falsche Erlösung. (Valerie Dirk, 23.11.2023)