Ralf Rangnick sieht seine Spieler erst wieder im März, bis dahin bleibt er natürlich hellhörig. Bei der EM in Deutschland scheint alles möglich zu sein.
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"Ich liebe meine Jungs, ich liebe diese Mannschaft", sagte Ralf Rangnick am sehr späten Dienstagabend im Medienzentrum des Happel-Stadions. Das 2:0 gegen das armselige, total unterlegene Deutschland war rund eine Stunde alt, als der 65-Jährige, der nüchtern zu analysieren pflegt, diesen Gefühlsausbruch zuließ. Es sei das beste Match seiner nun 18-monatigen Amtszeit als österreichischer Teamchef gewesen. Hätte er Haare in der Suppe gesucht, er wäre nicht fündig geworden. Dieses Fußballspiel kam der Perfektion sehr nahe.

Für Kollegen Julian Nagelsmann war sie, die Perfektion, ungefähr so weit weg wie sein Bundeskanzler Olaf Scholz vom Budgetpfad. Rangnick mischte sich in die Befindlichkeiten seiner Landsleute nicht ein. "Wir hatten das Spiel in jeder Phase unter Kontrolle, alle Punkte wurden umgesetzt, wir haben auf jeder Position maximale Energie investiert."

Die österreichische Nationalmannschaft wurde spätestens 2023 zum Energiebündel. Zehn Spiele, sieben Siege, zwei Remis – die einzige Niederlage war das 2:3 in Wien gegen Belgien. Auch da wurde ein 0:3-Rückstand fast noch wettgemacht. In jedem Match konnte zumindest einmal genetzt werden, das Torverhältnis lautete 20:8.

Man kann sich rechtschaffen freuen, die Gefahr des Größenwahns besteht nicht. "Die Jungs sind viel zu intelligent und bodenständig", sagte Rangnick, und er muss es wissen. "Sie sind Freunde und ein verschworener Haufen, der auf dem Platz kein Haufen ist."

Abgesehen davon ist es eine goldene Generation. Das hat nicht zuletzt mit der Arbeit von Red Bull Salzburg zu tun, wesentliche Spieler wurden dort ausgebildet, um jetzt bei großen Klubs im Ausland Leistungsträger zu sein. Die Goldenen wissen über ihr Können Bescheid, reden aber nicht groß darüber, sind keine Marktschreier, betonen, demütig bleiben zu wollen. "Wir sind Weltklasse" sagt keiner. Vielleicht ist es eine typisch österreichische Tugend, sich ein bisserl kleiner zu machen, als man ist. In Wahrheit wissen Kapitän David Alaba und Co, dass sie verdammt gut sind. Alaba ist Abwehrchef von Real Madrid, also absolute Weltklasse.

Viele Motoren

Wie sagte Nagelsmann, der sich nicht in der Opferrolle sehen möchte: "Wir müssen lernen, so zu arbeiten wie etwa Xaver Schlager." Der Leipzig-Legionär ist einer von vielen Motoren. Die Liste der herausragenden Kicker ist lang, Konrad Laimer, Christoph Baumgartner und Marcel Sabitzer sind nur drei Beispiele. Und dann gibt es etwa Michael Gregoritsch, der im Nationalteam weit besser stürmt als bei seinem Verein Freiburg. Das Außergewöhnliche spornt offensichtlich an. Die Generation ist jung, Baumgartner ist 24, Nicolas Seiwald 22. Ihr Herbst muss noch lange warten.

Rangnick hat an den richtigen Schrauben gedreht. Vorgänger Franco Foda hatte das verpasst. Hin und wieder war das Team zu Ausrutschern nach oben fähig. Das 1:2 gegen Italien im Achtelfinale der EM 2021 war echt gut und das Scheitern in erster Linie Pech. Danach ging es bergab. Davor nicht bergauf.

Rangnick hat den "Haufen" auf Schiene gebracht. Es herrscht Klarheit, Zielstrebigkeit, Selbstbewusstsein, der Pfeil zeigt nach oben. Am 2. Dezember wird in Hamburg die EM-Endrunde gelost, Österreich steckt im zweiten Topf, das Spielchen, wenn man gerne nicht hätte, wurde abgesagt. Rangnick. "Wir können gegen jeden gewinnen. Bei uns ist keiner dabei, der glaubt, wir sind das Real Madrid als Nationalmannschaft. Wir sind keine Mannschaft, die in erster Linie Zauberfußball oder rote-weiß-rotes Ballett spielt. Wir kommen klar über Einstellung und Mentalität."

Und die Fans kommen in Scharen. 2022 wurde die Saison im Ernst-Happel-Stadion mit einem 2:0 gegen Europameister Italien abgeschlossen – vor 18.000 Zuschauern. 2023 war es ein 2:0 gegen Deutschland – vor 46.000 Zuschauern.

Vor der EM 2016 herrschte im Land ähnliche Euphorie, unter Marcel Koller wurden in der Qualifikation 28 von 30 möglichen Punkten erreicht. Bei der Endrunde in Frankreich scheiterte man nicht zuletzt an Selbstüberschätzung. Die Spieler glaubten, besser zu sein, als sie waren. Das ist nun auszuschließen. Zumal aus Fehlern auch im Fußball mitunter gelernt wird.

Rangnick wünschte noch "Frohe Weihnachten" und "Prosit Neujahr 2024". Oh, wie wird das schön. Sofern alle gesund bleiben. (Analyse, Christian Hackl, 23.11.2023)