Wopke Hoekstra sorgt weiter für Aufregung. Schon bevor der neue EU-Klimakommissar im Oktober seinen Job angetreten hatte, war der gebürtige Niederländer Zielscheibe zahlreicher Kritiker. Dem Ex-Ölmanager wurde nach seiner Nominierung für den Spitzenposten vorgeworfen, Klimaschutz nicht ernst zu nehmen. Mehr als 30.000 Personen unterzeichneten eine Petition gegen die Ernennung des Christdemokraten. Dennoch wurde er mit 279 zu 173 Stimmen vor rund eineinhalb Monaten zum Klimakommissar der Union ernannt. Er soll der Mann sein, der die EU in Richtung Klimaneutralität steuert.

Das Kernkraftwerk Isar 2 in Deutschland steht inmitten lauter Einfamilienhäuser.
Isar 2 war eines der letzten drei aktiven Kernkraftwerke in Deutschland. Im April ging es vom Netz.
IMAGO/Christian Ender

Nun hat der Niederländer erklärt, wie jene Energiewende gelingen soll – und wird damit wohl wieder für Debatten sorgen. Sein Vorschlag ist ähnlich umstritten wie der Politiker selbst: Hoekstra nannte Atomkraft als Teil der Lösung in der Klimafrage. "Die Wissenschaft sagt uns, dass wir einfach nicht den Luxus haben, Nuklearenergie aus dem Lösungsmix rauszuhalten", zitierte die Nachrichtenagentur APA Hoekstra am Mittwoch. Das Thema sei in der EU sehr sensibel, legte der Politiker nach. Einige Länder wären in der EU stark für Atomkraft und andere klar dagegen. Er müsse bei der Weltklimakonferenz, die nächste Woche in Dubai startet, die ganze Union vertreten.

Allianz für den Atomstrom

Dort wird Hoekstra jedenfalls auf Verbündete stoßen. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass mehrere Länder, angeführt von den Vereinigten Staaten, eine Atomkraftallianz schmieden wollen. Ihr Ziel: Bis 2050 sollen die Atomkraftkapazitäten im Vergleich zu 2020 weltweit verdreifacht werden. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg dürfte die Allianz zumindest um Großbritannien, Frankreich, Schweden, Finnland und Südkorea erweitert werden.

Wopke Hoekstra steht vor einer EU-Flagge.
EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra spricht sich für Atomenergie aus.
EPA/RONALD WITTEK

"Kernenergie ist zu hundert Prozent Teil der Lösung", kündigte John Kerry, US-Sondergesandter für das Klima an. "Es ist saubere Energie." Die USA, die mit mehr als 90 Reaktoren in der Atomkraft Weltführer sind, wollen die Allianz im Rahmen der Klimakonferenz präsentieren – und damit quasi die Renaissance der umstrittenen Technologie ausrufen.

Der Vorstoß dürfte bei den knapp über 30 kernkraftproduzierenden Staaten für Zustimmung sorgen, wohl aber auch für reichlich Gegenwind. Während Nuklearenergie als emissionsarm gilt, ist die Produktion mit hohen Kosten und möglichen Sicherheitsrisiken verbunden. Darüber hinaus gibt es das nach wie vor ungelöste Problem der Endlagerung.

Viele neue Kraftwerke in Planung

Nichtsdestoweniger sind weltweit zahlreiche neue Kraftwerke in Planung oder werden bereits gebaut. Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA baut China derzeit etwa 22 neue Reaktoren, Indien acht und die Türkei vier neue Anlagen.

Ein globaler Anstieg der Atomenergie wird in der Klimapolitik häufig diskutiert, ist aus Sicht mancher aber kaum realisierbar. Zu diesem Schluss kommt etwa eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Dieses hat 2800 Klimaszenarien unter die Lupe genommen. Das Fazit: "Atomenergie ist kein Klimaretter. Andere Technologien sind rentabler und risikoärmer", so Studienautor Christian von Hirschhausen.

Die EU selbst ist in der Atomfrage gespalten: Rund die Hälfte, 13 der 27 Mitgliedsstaaten, betreiben Kernkraftwerke. Konsens ist nur schwer zu finden, wie eine Abstimmung zur EU-Taxonomie im Vorjahr zeigte: Trotz heftiger Kritik zahlreicher Staaten und NGOs verpasste die EU-Kommission der Atomkraft im Vorjahr ein grünes Label. Dadurch wurde Nuklearenergie als nachhaltige Wirtschaftstätigkeit eingestuft. Österreich lehnte die Einstufung von Anfang an ab und reichte Klage beim Europäischen Gerichtshof ein.

Ein großer Verbündeter in der EU

Ganz anders sieht es in Frankreich aus. Es war eines jener Länder, welches das grüne Label forcierte. Erst Ende September forderten Frankreich und weitere 20 Staaten erneut eine Erleichterung der Finanzierung von Atomkraft sowie die Gleichstellung mit erneuerbaren Energien. Auch Frankreichs Energieministerin Agnès Pannier-Runacher will im Rahmen der Klimakonferenz laut ihrem Ministerium dafür werben, "dass wir es ohne den nuklearen Beitrag nicht schaffen werden".

Das Land will den Ausbau von Kernkraftwerken vorantreiben – und sieht in der Technologie die Lösung in der Klimafrage. Wohl auch deshalb, weil mehr als die Hälfte des in der EU produzierten Atomstroms aus Frankreich stammt. In dem Land selbst werden knapp 70 Prozent des Stroms durch Nuklearenergie erzeugt. Bis 2035 sollen sechs neue Reaktoren errichtet werden.

Ganz anders sieht die Diskussion weiter im Osten aus: In Deutschland gingen im April 2023 nach rund 62 Jahren die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz. Das ursprüngliche Ausstiegsdatum wurde nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine nach hinten verschoben. In Österreich, wo sich die Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des AKWs Zwentendorf heuer zum 45. Mal jährt, ist die Position noch klarer: Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Technologie ab. "Atomenergie hat als alternative Energiequelle keine Zukunft", wird Karl Nehammer (ÖVP) auf der Homepage des Kanzleramts zitiert. (Nora Laufer, 23.11.2023)