Am späten Abend des Wahltages hatte Geert Wilders viel Grund für Jubel.
EPA/REMKO DE WAAL

Wenn sich zwei Hunde um einen Knochen streiten, heißt es hinter den niederländischen Deichen, läuft der dritte damit davon. Seit Mittwoch verwenden die Niederländer dieses Sprichwort in abgewandelter Form: Es waren drei, die sich um den Knochen stritten – und bekommen hat ihn Geert Wilders: Sein Sieg bei den Parlamentswahlen lässt die Ära von Mark Rutte nach dreizehn Jahren mit einer rechtspopulistischen Revolte enden, die Den Haag in den Grundfesten erschüttert.

In den letzten Tagen vor den Wahlen hatte Wilders Partei für die Freiheit (PVV) zwar zu einem überraschenden Aufholmanöver angesetzt, nachdem sich drei Parteien monatelang ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert hatten: Ruttes Rechtsliberale, das von Frans Timmermans angeführte neue Linksbündnis aus Grünen und Sozialdemokraten und der Neue Soziale Kontrakt (NSC) des ehemaligen Christdemokraten Pieter Omtzigt. Aus diesem Dreikampf hatte Wilders auf der Zielgeraden einen Vierkampf gemacht. Dass er seine Konkurrenten überholen würde, damit hatte niemand gerechnet – auch Wilders nicht: "Ich musste mich erst in den Arm kneifen!"

Video: Partei von Rechtspopulist Wilders bei Wahl in Niederlanden vorne
AFP

Am Morgen nach der Wahlnacht stellte sich ein "The Day After"-Gefühl ein – "ähnlich wie nach dem Brexit und dem Wahlsieg von Donald Trump", so Politologin Léonie de Jonge vom Dokumentationszentrum für politische Parteien der Universität Groningen.

Wie konnte das passieren?

Wilders’ Triumph bestätigt einen europäischen Trend – allerdings ist dessen PVV keine antisemitische, rechtsextreme Partei, sondern eine rechtsradikale. Sie will weder Rechtsstaat noch Demokratie abschaffen. Wilders outet sich nach wie vor als Freund Israels. Wie aber ist sein ebenso unerwarteter wie erdrutschartiger Sieg zu erklären?

Dilan Yesilgoz bei der VVD-Sitzung am Donnerstag
Dilan Yesilgoz bei der VVD-Sitzung am Donnerstag
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Das liegt zu einem großen Teil an der rechtsliberalen VVD-Partei von Rutte: "Sie hatte sein viertes Kabinett im Sommer am Streit über die Asylpolitik platzen lassen, um bei den Neuwahlen dann Migration zum wichtigsten Wahlkampfthema zu machen", so Politologin de Jonge. Doch dieser Schuss sei nach hinten losgegangen: Dilan Yeşilgöz, die Ruttes Nachfolge antreten wollte, versuchte sich als toughe Law-and-Order-Frau zu profilieren. Dadurch aber wurde die VVD zu einer Art PVV light: "Und die Wähler haben dem Original mehr vertraut als der Kopie", so de Jonge.

Fehler über Fehler

Zweiter Strategiefehler: Bisher hatten fast alle Parteien Wilders wegen seiner Islam-Hetze ausgeschlossen. Doch anders als Rutte hatte Yeşilgöz während des Wahlkampfs die Tür für eine mögliche Koalition offen gelassen. Und Wilders witterte seine Chance: Er könnte einem rechten Kabinett zu einer Mehrheit verhelfen und erstmals seit gut 20 Jahren mitregieren. Auf einmal schlug er mildere Töne an, Spötter nannten in schon "Geert Milders".

Laut Umfragen begann der Rechtsaußen aufzuholen, erstmals war eine Stimme für ihn keine verlorene. Der chaotische Endspurt: Yeşilgöz beeilte sich zu verkünden, zwischen ihr und Wilders existiere eine Kluft. Timmermans rief die Wähler auf, strategisch für sein Linksbündnis zu stimmen. Und Omtzigt, der bisher offengelassen hatte, ob er bei einem Wahlsieg Premier werden wolle oder nicht, gab bekannt, er könne sich das durchaus vorstellen – vorausgesetzt, einige Ministerposten würden mit Experten besetzt.

Erste Positionierungen

Wie geht es nun weiter? Eine Koalition mit linken Parteien scheint ausgeschlossen, Wilders’ Traumkoalition wäre eine mit den Rechtsliberalen und dem NSC von Omtzigt. Verstärkt werden könnte dieses Trio dann noch mit der erfolgreichen Bauer-Bürger-Bewegung (BBB). BBB-Chefin Caroline van der Plas brachte bereits in der Wahlnacht in Position – Yeşilgöz und Omtzigt hingegen gaben sich bedeckt. Ob sie sich eine Koalition mit dem bisher so geächteten Wilders vorstellen können, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

Parlamentswahl in den Niederlanden

Wilders ließ in der Wahlnacht zunächst einmal seinem Jubel freien Lauf: "Wir sorgen dafür, dass die Niederländer wieder an erster Stelle stehen!", rief er. "Wir werden den Asyl-Tsunami eindämmen!"

An seine potenziellen Koalitionspartner richtete er mildere Töne: "Man kann uns nicht mehr ignorieren, wir müssen über unsere Schatten springen und nach Lösungen suchen." Als Regierungspartei werde die PVV nicht versuchen, gegen Verfassung und Grundrechte zu verstoßen. "An uns soll es nicht liegen – ich werde versuchen, redlich zu sein!"

Den Bürgern und Bürgerinnen versicherte er, Premier für alle Niederländer werden zu wollen – ungeachtet ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe oder sexuellen Orientierung. Ob er damit den großen Teil der Bevölkerung beruhigt, den sein Wahlsieg ängstigt, bleibt abzuwarten. (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 23.11.2023)