Marine Le Pen beginnt zu träumen. Den Wahlsieg ihres Verbündeten Geert Wilders in den Niederlanden (er erhielt rund 23,6 Prozent der Stimmen) analysierte die Rechtspopulistin mit den Worten, das Thema Migration sei heute in Europa "absolut bestimmend". Unnötig anzufügen: Aus diesem Grund führt die Gründerin des ausländerfeindlichen Rassemblement National (RN) die Umfragen für die Präsidentschaftswahl 2027 mit 30 Prozent an, weit vor dem übrigen Kandidatenfeld.

Marine Le Pen und Geert Wilders auf einem Archivbild aus 2013.
Marine Le Pen und Geert Wilders auf einem Archivbild von 2013. Die beiden rechten Bundesgenossen wollen auch voneinander profitieren.
AP/Peter Dejong

Sollte Wilders wie Giorgia Meloni in Italien die Regierungsgeschäfte übernehmen, erhofft sich Le Pen zusätzlichen Aufwind. Sie gibt sich heute betont salon- und damit regierungsfähig, um das Image einer Tochter des notorischen Rechtsextremisten und Antisemiten Jean-Marie Le Pen abzustreifen. Auf dem Weg zu dieser "Normalisierung", wie sie nach Wilders' Wahlerfolg sagte, hatte sie im Oktober einen großen Schritt gemacht, als sie an einer Pariser Kundgebung gegen Antisemitismus teilnehmen konnte, ohne wie früher verjagt zu werden.

Chaosangst ist der Feind

Würde die 55-jährige Französin bei der nächsten Präsidentschaftswahl – bei der Amtsinhaber Emmanuel Macron nicht mehr antreten kann – in den Elysée-Palast gewählt, wäre das ein Zeitenwechsel für ganz Europa. Eine Le Pen an der Spitze der Menschenrechtsnation Frankreich, das würde die EU in ihrer jetzigen Form nicht überleben.

Nur: So einfach liegen die Dinge für Le Pen auch nach Wilders' Wahlsieg nicht. Die RN-Abgeordnete muss in Frankreich 2027 nicht nur den ersten Wahlgang gewinnen, sondern dann auch die Stichwahl. Das unterscheidet sie von Wilders oder von der Italienerin Meloni, die mit relativer Mehrheit Ministerpräsidentin wurde.

Zudem befürchten 70 Prozent der Franzosen – laut Umfragen sogar viele Le Pen-Wähler – ein "Chaos" im Land, wenn die Rechtsextremistin dessen Geschicke leiten würde. Deshalb gibt sich die bereits dreimalige Präsidentschaftskandidatin so staatstragend wie möglich – und rückte schon mehrfach von Wilders ab: Dessen einzigen Europaabgeordneten warf sie aus der Fraktion "Identität und Demokratie" im EU-Parlament, weil er "Go Putin" getwittert hatte. Wilders' 2014 geäußerten Wunsch nach "weniger Marokkanern" in den Niederlanden bezeichnete sie am Donnerstag als "Schock". Auch seine Idee eines EU-Referendums lehnt Le Pen ab; das käme im europhilen Frankreich schlecht an.

Kein Schulterschluss

Auffällig ist, dass es zuvor eher die Wilders-Anhänger waren, die sich von den französischen Rechtsextremisten distanzierten. So etwa weil Le Pen – wie Melonis Fratelli d’Italia – die auf die Faschisten zurückgehende Flamme in ihrem Parteilogo bewahrt.

Wie tief die Differenzen im rechten Lager gehen, äußert sich auch darin, dass Le Pen beim nächsten Kongress von "Identität und Demokratie" keinen Vertreter Wilders' duldet. Wenn nicht einmal die Verbündeten Wilders, Le Pen und Matteo Salvini den Schulterschluss schaffen, ist ein Zusammengehen mit der strengkonservativen Rechten wie den Fratelli oder der polnischen PiS noch illusorischer.

Das Bild chronischer Zerstrittenheit der europäischen Rechtsradikalen schadet Le Pen sehr direkt: In Frankreich entsteht der Eindruck, sie sei unfähig zu politischen Kooperationen, letztlich: unfähig zum Regieren. (Stefan Brändle aus Paris, 24.11.2023)