Das Sehnen und Wähnen der griechischen Ur-Poetin Sappho hat uns Nachgeborene als Stückwerk erreicht, in allerlei ergötzlichen Strophen und Splittern. Die meisten dieser Fragmente sind derart eindrucksvoll, dass sie – mitsamt den überlieferten Leerstellen – das Bild eines Subjekts vermitteln, dessen meisterhaft artikuliertes Gefühlsleben uns nicht antik, sondern beinahe schon geschwisterlich berührt. Ob die historische Sappho (ungefähr 630 bis 570 vor Christi Geburt) sich tatsächlich, wie in Legenden überliefert, aus unerfüllter Liebessehnsucht vom Leukadischen Felsen gestürzt hat: Die Beantwortung dieser Frage mag getrost Freunden des gehobenen Klippensprungsports überlassen bleiben.

Das Weiterreichen der sapphischen Fackel hat sich bereits die kanadische Dichterin Anne Carson angelegen sein lassen. Diese Meisterin der angelsächsischen Moderne gilt alljährlich als Co-Favoritin für den Literaturnobelpreis, das untrügliche Anzeichen dafür, dass sie ihn nie erhalten wird. Carsons Sappho-Übertragung ins Englische diente jetzt dem Linzer Christian Steinbacher als Ausgangsmaterial für einen weiteren Poesietransfer.

Anne Carson / Christian Steinbacher, "If Not, Winter / fehlst du, ist Winter: Fragmente der Sappho". € 20,– / 40 Seiten. Schupfart, das Versteck im Verlag von Urs Engeler 2023
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Seiner Übersetzung ins Deutsche liegt eine Art unversieglicher Puls zugrunde. Das Schema der sapphischen Strophe, eine kunstvolle Anordnung aus Trochäen und Daktylen, gibt dem Geschehen den Rhythmus vor – auch dann, wenn die Verse (aufgrund "verlustigen" Materials) empfindliche Lücken aufweisen. Sappho, der "weibliche Homer", tritt in philologisch verwandelter, indes gereinigter Gestalt vor uns hin. Das, was an Schrift noch da ist, wird mit der klanglich-immateriellen Sinngestalt des "Ganzen" konfrontiert – das es jedoch nicht (mehr) gibt.

Steinbacher, der vitalste Metriker unter unseren Dichterinnen und Dichtern, findet so zu einer Art Essenz der abendländischen Poesie zurück. Alles wird wieder so, wie es in der Antike nie war: "aber keines der Mädchen, denk’ ich / blickt’s in das Licht der Sonne / wird jemals / mit Wehmut / wie dieses". Traumhaft klar, das alles, "wie ein Klang der Lyra". (Ronald Pohl, 8.12.2023)