Bibliothek des Wahnsinns
Ein Gebetbuch, das geladen ist. Spezialanfertigung für Francesco Morosini, Doge von Venedig 1688 - 1694. Die Pistole feuert nur, wenn das Buch geschlossen ist. Ausgelöst wird der Schuss mit dem Lesebändchen.
Knesebeck/Nicholas Herman

Der britische Antiquar Edward Brooke-Hitching ist ein Paradebeispiel dafür, dass Menschen, die in Archiven und Bibliotheken leben, mit fortgeschrittenem Wissen um die Objekte ihrer Leidenschaft sehr schnell die ausgetretenen Pfade verlassen. Die Suche nach ausgefallenen Titeln beschränkt sich dann nicht mehr nur auf Erstausgaben von Werken der Weltliteratur. Spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks geht es auch darum, im Zweifel Haus und Hof für die obskuren, oft auch schattseitigen und historischen Seltenheiten zu verpfänden.

Bibliothek des Wahnsinns
Die Bibliothek des Wahnsinns, Buchcover.
Knesebeck

Nach Veröffentlichungen wie Der Atlas des Teufels oder einer Enzyklopädie der vergessenen Sportarten präsentiert der britische Autor nun in Die Bibliothek des Wahnsinns nicht nur "seltsame Bücher, skurrile Manuskripte und andere literarische Kuriositäten". Ausgehend von der 2002 gestarteten Google-Books-Initiative "Project Ocean", die sich zum Ziel setzte, jedes jemals gedruckte Buch zu digitalisieren, kam das Findungsteam zu einer fantastischen Annahme. Abzüglich aller Werke, die im Lauf der Geschichte verloren gingen oder (bewusst) zerstört wurden, seien das an die 130 Millionen Bücher, die es zu bearbeiten gelte.

Bibliothek des Wahnsinns
Manche Bücher in früheren Zeiten sind auch recht groß geraten.
Knesebeck

Die interessieren unseren britischen Bücher-Nerd nun etwas weniger. Spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks kann man ja davon ausgehen, dass manche Absonderlichkeiten der literarischen Welt zwar mitunter selten, aber doch dank Vervielfältigung leichter erhältlich sind als etwa 4000 Jahre alte sumerische Keilschriftkegel, Knotenschriften der Inka oder "message sticks" der australischen Ureinwohner, die andere Klans zu sportlichen Wettkämpfen oder Tanzvergnügen einladen.

Edward Brooke-Hitching begibt sich lieber auf die Suche nach einzigartigen Exponaten wie einer japanischen Schriftrolle aus dem 17. Jahrhundert, in der Menschen abgebildet sind, die während eines Furzwettbewerbs Baumstämme oder Pferde durch die Luft wirbeln.

Jesus als Knoblauchbauer

Neben antiken Fake News wie jener, dass nicht einst Christus gekreuzigt wurde, sondern er mit seinem Zwillingsbruder die Rollen tauschte und nach Japan auswanderte, um dort mit Familie ein langes, glückliches Leben als Knoblauchbauer zu verbringen, erfahren wir etwa auch von der geschäftstüchtigen Nancy Luce. Sie ließ sich im 19. Jahrhundert in Massachusetts von ihren beiden Hühnern Ada Queetie und Beauty Linna zu Gedichtbänden inspirieren.

Bibliothek des Wahnsinns
Der Einband dieses nepalesischen Zauberbuchs für Schamanen aus dem 18. Jahrhundert ist in Blut, Fleisch und Haut von Büffeln, Hühnern, Hunden, Ziegen und Kühen gebunden. Sie repräsentieren die fünf Sinne und die fünf Temperamente. © David Nathan-Maister
Knesebeck

Wir bestaunen diverse Zauberbücher, mit Arsen vergiftete Einbände, die während der Zeit der Renaissance durchaus nicht unüblich auch mit Menschenhaut eingebunden sein konnten. Ein Doge in Venedig vertraute dank der Spezialanfertigung eines Gebetsbuchs nicht nur auf das Wort Gottes. Mit dem Lesezeichen als Abzug konnte auch eine darin eingebaute Pistole gegen das Böse in der Welt ankämpfen.

Der Teufel wird in diversen spiritistischen Büchern beschworen, in die Tierknochen und Federn eingearbeitet sind. Es geht um unverständliche Geheimschriften, ein "Katzenklavier" aus dem 17. Jahrhundert, das hier nicht näher beschrieben werden soll, sowie allerlei spiritistischen Unsinn. Den kann man heute wohl auch als Unfug für Klangschalenbesitzer abtun. Besonders bizarr: Erst vor einem Vierteljahrhundert gab Iraks Diktator Saddam Hussein einen Koran in Auftrag, der mit 27 Liter Eigenblut geschrieben wurde und heute nach dessen Sturz vor der Menschheit weggesperrt in einem Giftschrank liegt. Wir erfahren in diesem alternativen wie vergnüglichen Geschichtsbuch also auch eines: Der Wahnsinn ist der Menschheit in ihren Büchern auf jeden Fall eingeschrieben. (Christian Schachinger, 27.11.2023)

Edward Brooke-Hitching, "Die Bibliothek des Wahnsinns". Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. € 40,50 / 256 Seiten. Knesebeck, München 2023