Krieg ist etwas Archaisches, und doch ist er im 21. Jahrhundert auch digital. Das weiß kaum jemand so gut wie die Bevölkerung der Ukraine, die sich nun fast zwei Jahre im Kriegszustand befindet. Wenn in der Hauptstadt Kiew ein Bombenalarm eingeht, dann bekommen die Bürgerinnen und Bürger eine Pop-up-Nachricht auf ihr Smartphone und erfahren über eine interaktive Karte, wo sich der nächstgelegene Luftschutzkeller befindet.

"Und wenn man diese Nachricht erhält, dann sollte man schleunigst um sein Leben rennen", sagt Wladimir Klitschko. Der Weltmeister im Schwergewichtsboxen und Bruder des Kiewer Bürgermeisters Witali Klitschko ist auch das öffentliche Gesicht für die App "Kyiv Digital", die ebendiese Funktionen bietet. "Menschen sind gestorben, weil sie die empfohlene App nicht installiert hatten oder weil sie die Warnungen ignorierten", sagt er.

Fast wie Tinder

Heute hat die "Kyiv Digital"-App 2,6 Millionen Userinnen und User, vor Ausbruch des Krieges waren es knapp 1,5 Millionen. Denn "Kyiv Digital" gab es auch schon vor dem Frühjahr 2022, nur diente sie damals nicht dem Retten von Menschenleben, sondern der Erhöhung der Lebensqualität der Stadt. So wurde sie ursprünglich rund um das Thema Mobilität konzipiert: Es konnten Fahrscheine für die öffentlichen Verkehrsmittel gekauft oder das eigene Auto registriert werden, um dieses einfacher in der Stadt parken zu können. In einer Vorstufe der Bombenalarme erhielten die Bürgerinnen und Bürger Kiews auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Push-Nachrichten, etwa zu Ausfällen in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder Ereignissen in der Nachbarschaft.

Screenshot Kyiv Digital
Ursprünglich sollte die App "Kyiv Digital" keine Leben retten, sondern bloß zur Erhöhung der Lebensqualität beitragen.
Screenshot

Um auch älteren Menschen den Zugang zur App zu ermöglichen, ist die Bedienung so einfach wie möglich gehalten, wie Witali Klitschkos Berater in Sachen Digitalisierung, Oleg Polowynko, im Gespräch mit dem STANDARD sagt. Gleichzeitig wurde der Funktionsumfang schrittweise erweitert, so können User zum Beispiel auch Petitionen starten und dafür in der App Stimmen sammeln – bekommt ein Antrag für die Änderung einer Busroute etwa 600 digitale Zustimmungen, so wird das Anliegen an den Stadtrat weitergeleitet. "Zuerst wollten wir das System der Zustimmungen so gestalten, dass man wie bei Tinder nach links oder rechts wischen kann, aber das wäre dann doch zu weit gegangen", sagt Polowynko und lacht.

Konzept und digitale Anforderungen werden von der Stadtverwaltung festgelegt, die Programmierarbeit per se wird an ukrainische Unternehmen ausgelagert – insgesamt sind über 500 Personen mit dem Projekt befasst. Da die Daten laut ukrainischem Recht nicht außerhalb des Landes gespeichert werden dürfen, sind sie im Sinne der Redundanz in mehreren Serverfarmen gespeichert, die über das Land verteilt sind, teilweise in Luftschutzbunkern.

Kalter Winter, ständige Stromausfälle

Doch es sind nicht nur die Bombenangriffe, die den Alltag in der Ukraine bestimmen, auch regelmäßige Blackouts verändern das Leben der Menschen. "Man überdenkt seinen Lebensstil, wenn man weiß, dass man nur zwei Stunden Strom pro Tag hat", sagt Polowynko. Auf Tiktok kursieren etwa zynische Videos, in denen Protagonisten ihre Morgenroutine dokumentieren, in der sie die Zähne putzen, die Powerbank aufladen, das Frühstück vorbereiten und anschließend der Stadt zurufen, dass man den Strom nun getrost abdrehen könne.

Wladimir Klitschko
Wladimir Klitschko: Bis zu minus 25 Grad Celsius sind im Winter in der Ukraine möglich.
IMAGO/Future Image

Die Realität ist freilich nicht so lustig. So betont Klitschko, dass der Winter naht und dass in dieser Jahreszeit die Temperaturen in der Ukraine auch auf minus 25 Grad Celsius fallen können. Russland versuche, der Ukraine auch die Energiezufuhr abzuschneiden, wodurch man etwa beim Thema Generatoren umdenke: statt großer, gasbetriebener Generatoren setzt man auf ein dezentrales Netz aus verteilten, strombetriebenen Generatoren. So ist es – ähnlich wie bei einer dezentralen IT-Infrastruktur – auch weniger dramatisch, wenn ein Generator ausfällt, etwa aufgrund eines Bombenangriffs.

Parallel dazu werden "Heating Points" vor allem für jene Menschen eingerichtet, die nicht für sich selbst sorgen können. Hier können sie sich nicht nur aufwärmen, sie erhalten auch Essen, können ihre Handys aufladen und ins Internet einsteigen. Auch sind über 1.000 Luftschutzunterkünfte mit WLAN ausgestattet. Das ist unter anderem nötig, um im Fall eines Angriffs mit Angehörigen kommunizieren zu können.

Satelliteninternet als zweite Wahl

Um diese Internetversorgung zu gewährleisten, hat die Stadt Kiew eine reservierte Bandbreite im heimischen Glasfasernetz. Dennoch kann es vorkommen, dass im Fall eines Blackouts in manchen Bezirken keine Strom- und somit auch keine Internetversorgung gegeben ist. Daher setzt auch die Stadt Kiew – parallel zu den ukrainischen Streitkräften – als Backup auf das Satelliteninternet Starlink des umstrittenen US-Unternehmers Elon Musk.

Polowynko stellt in diesem Kontext auch klar, dass Starlink kein Geschenk Musks sei, sondern dass man dafür bezahle. "Die Ukraine ist nun einer der größten Kunden von Starlink", sagt er. Im militärischen Bereich war es hier zu Uneinigkeiten gekommen, weil die Streitkräfte damit teils ihren Drohnen steuern und somit davon abhängig sind. Musk wiederum betonte, dass Starlink nur für die zivile Nutzung gedacht sei, und wollte den Zugang entsprechend beschränken. "Vielleicht hat er Angst, dass die Russen beginnen, seine Satelliten anzugreifen", sagt Polowynko mit Blick auf die schwierige Mischung aus Politik und Unternehmertum. Die Stadtverwaltung von Kiew nutze Starlink jedenfalls nur für zivile Zwecke.

Ausbildung und Arbeit: Ein Investment in die Zukunft

Zu diesen zivilen Zwecken gehört auch, dass Kindern eine Ausbildung ermöglicht wird, obwohl der Unterricht jederzeit durch Bombenalarme unterbrochen werden kann. Hinzu kommen jene Schülerinnen und Schüler, die aus dem Land geflüchtet sind, nach dem Krieg jedoch wieder zurückkehren sollen. "Wenn so viel Ausbildung verloren geht, was wird das für die Zukunft des Landes bedeuten, wenn der Krieg eines Tages vorbei ist?", fragt Klitschko.

Nach Angaben des ukrainischen Bildungsministeriums lernen von derzeit 298.000 ukrainischen Schulkindern 46,4 Prozent über Distance-Leaning, also digital via PC, Handy oder Tablet-PC. Hinzu kommen 61.300 geflüchtete Schülerinnen und Schüler, die von außerhalb der Ukraine auf das heimische Bildungssystem zugreifen. Zu diesem Zweck bekommen sie über ein Onlinetool Zugriff auf die benötigten Lernunterlagen, ihren Stundenplan für den Tag und die zu erledigenden Hausübungen. Eltern, Schüler und Lehrkräfte sind hier auf einer Plattform vereint.

Ein anderes Thema sind Rückkehrer von der Kriegsfront, die medizinische und meist auch psychologische Betreuung brauchen. "Das Ziel ist hier, dass diese Menschen nicht selbst aktiv werden müssen", sagt Polowynko. Wird etwa ein Kriegsverletzter ins Spital eingeliefert, so wird dies im System registriert, und er bekommt über die "Kyiv Digital"-App Angebote für weitere Dienstleistungen – bis hin zu Jobangeboten aus der freien Wirtschaft und Ausbildungsangeboten von NGOs, um ihn bestmöglich wieder in den Alltag zu integrieren.

Digitalisierung der Vergangenheit

Doch es sind nicht nur die Menschen, die in Zeiten des Krieges geschützt werden müssen. "Unser Feind versucht unsre Nation zu zerstören", sagt Klitschko. "Und um eine Nation zu zerstören, muss man seine Geschichte vernichten." Demnach greife Russland teils gezielt Archive an, in denen historische Daten dokumentiert sind – und zwar auf Papier.

Das Ziel ist folglich, diese Daten zu digitalisieren. "Denn Resilienz bedeutet auch, die Vergangenheit zugunsten der Zukunft zu retten", sagt Klitschko. Laut Polowynko wurde mittlerweile die Hälfte des Papierarchivs digitalisiert, doch das ist nur ein kleines Stück den Kuchens: Hinzu kommen Kunstwerke, Denkmäler und Gebäude, die es für die Zukunft zumindest digital zu verewigen gilt.

BACKUP UKRAINE (English)
Polycam

Zu diesem Zweck werden die physischen Kulturgüter unter anderem im Projekt "Backup Ukraine" per 3D-Scan digitalisiert. Basierend auf der Smartphone-App Polycam, kann hier jeder Mensch die Kamera seines Smartphones nutzen, um Objekte zu scannen, diese werden anschließend als 3D-Modelle ins Netz gestellt und ihr Standort auf einer digitalen Karte angezeigt. Ein Blick auf die Website offeriert einen bunten Mix: Nachdem manche Menschen offenbar zum Spaß ihre Beine, Rucksäcke oder E-Roller gescannt haben, finden sich auch 3D-Modelle von Statuen und Gebäuden.

An anderer Stelle wurde die Möglichkeit geschaffen, Plätze in Kiew und auch andere Orte virtuell im Stil der "Street View"-Funktion von Google Maps zu begehen, inklusive kurzer Beschreibungen.

Kaputte Panzer in Kiew, online besucherfreundlich aufbereitet.
Screenshot

Wie sicher wäre Österreich?

"Wir wachsen durch Herausforderungen. Wer in der Komfortzone ist, der wächst nicht", sagt Klitschko. In dieser schwierigen Zeit habe man gelernt, sich anzupassen und so zu überleben – und wer sich davon ein Bild machen wolle, der sei herzlich eingeladen, sich dies selbst in Kiew anzusehen. "Ich bin mir sicher, dass Sie dann als ein anderer Mensch nach Hause zurückkehren", sagt der ehemalige Schwergewichtsboxer.

Polowynko wiederum gibt Fragen mit, die man sich auch in vermeintlich sicheren Ländern stellen könnte, die aber ebenso – etwa durch eine Naturkatastrophe – in einen Ausnahmezustand versetzt werden könnten: "Ist Ihre eigene Stadt sicher? Wüssten Sie, was im Fall einer Katastrophe zu tun ist? Und wie würden Sie in einer solchen Situation überleben?" (Stefan Mey, 2.12.2023)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Dieser Beitrag ist im Rahmen des Web Summit in Lissabon entstanden. Die Kosten der Reise wurden von der Wirtschaftskammer Österreich übernommen.