Die umstrittene Migrationspolitik der Europäischen Union hat in Afrika einen weiteren Rückschlag erlitten, nachdem die Militärregierung im Niger jetzt ein Gesetz außer Kraft gesetzt hat, das die Schlepperei von Migranten in dem westafrikanischen Staat verboten hatte. Auch sämtliche unter dem Gesetz verhängten Strafen seien aufgehoben, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Dekret des Junta-Chefs Abdourahmane Tchiani. Die Bestimmung war im Mai 2015 unter maßgeblichem Einfluss der EU zustande gekommen und sah bis zu 30-jährige Haftstrafen für Leute vor, die aus der Beförderung, Unterbringung oder Anstellung von Migranten ein Geschäft machten. Als "Belohnung" für die Verabschiedung des "Loi 36" ließ die EU der nigrischen Regierung hunderte Millionen Euro an Unterstützung zukommen. Unter anderem finanzierte Brüssel auch die Patrouillen, mit denen die Einhaltung der neuen Bestimmungen kontrolliert wurde.

Das Gesetz war in Europa als Erfolg gepriesen worden, weil es die Zahl der durch den Niger geschleusten Migranten von jährlich rund 300.000 auf unter 50.000 reduzierte. Durch den Sahelstaat verlief damals eine der Hauptrouten afrikanischer Migranten: Von der nordnigrischen Stadt Agadez aus wurden über die Jahre hinweg Millionen von Menschen in Lastwagen und Pick-ups durch die Sahara an die libysche Grenze und von dort aus zur Mittelmeerküste transportiert. Allerdings kam schon bald auch Kritik an dem Gesetz auf, weil es den Migrantenstrom nicht beendet, sondern nur auf noch gefährlichere Routen umgeleitet habe. Nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ist das gegenwärtige Jahr mit schon heute fast 2500 Opfern das mit den schlimmsten Todesfolgen in der Geschichte der Migration.

Einkommensquelle wieder da

Im Niger selbst war die Initiative von Anfang an umstritten, weil sie die heimische Bevölkerung um eine beachtliche Einkommensquelle brachte. An dem Migrantenstrom verdienten außer Lastwagen- und Pick-up-Besitzern auch deren Fahrer, Tankstellen, Herbergen sowie Lebensmittelverkäufer und Geschäftsleute, die Migranten als billige Arbeitskräfte nutzten. Nicht zuletzt zeigten sich die Angehörigen der Sicherheitskräfte enttäuscht: Auch sie waren an dem Geschäft direkt (über Schmiergelder) oder indirekt (über Familienangehörige) beteiligt. Das Gesetz habe "die nigrischen Interessen" nicht berücksichtigt, begründete die Junta dessen Aufhebung.

Ein Unterstützer von Junta-Chef Abdourahmane Tchiani nach dem Putsch im Sommer. Tchiani hat nun auch einen Vertrag mit der EU über ein Schlepperei-Verbot gekündigt.
AP/Sam Mednick

Das Gesetz wird sogar für den Staatsstreich gegen Präsident Mohamed Bazoum im Juli dieses Jahres mitverantwortlich gemacht. Als Innenminister war der entmachtete Staatschef in der Zeit vor seinem Aufstieg ins höchste Amt an der Implementierung maßgeblich beteiligt gewesen, was seinem Ruf unter den Offizieren nicht förderlich war. Dass die Bestimmung nun von der Junta kassiert wurde, bestätigt diese Vermutung. Hinzu kommt allerdings auch, dass sich die Militärregierung für die Wirtschaftssanktionen "rächen" will, die die EU gegen die Junta erlassen hat. Direkte Zahlungen in die nigrische Staatskasse wurden genauso storniert wie militärische Unterstützung. Ausgeschlossen von dem Boykott ist die Not- und Projekthilfe. Der Niger ist einer der ärmsten Staaten der Welt und auf ausländische Hilfe angewiesen.

"Ein Teufelskreis"

Die Auswirkungen des Gesetzes seien "überwiegend negativ" gewesen, zieht Ottilia Anna Maunganidze vom Institut für Sicherheitsstudien in Pretoria Bilanz. "Unsicherheit und Instabilität sind größer geworden, die Lebensgrundlage von Menschen wurden zerstört, die Migrationsrouten sind komplizierter geworden, und der Gesellschaftsvertrag zwischen Regierungen und der Bevölkerung ist erodiert." Da die EU-Strategie zur Destabilisierung afrikanischer Staaten beigetragen habe, suchten noch mehr Menschen ihre Heimat zu verlassen, so Maunganizde: "Ein Teufelskreis."

Auch der französische Sahelexperte Jérôme Tubiana ist überzeugt davon, dass die europäische Migrationspolitik im Niger zu einer "Gefahr für die Demokratie" wurde. "Brüssel hat alle Warnungen in den Wind geschlagen, weil man dort nur an der Reduzierung der Migration interessiert war." Zu erwarten sei, dass der Migrantenstrom durch den Niger nach der Kassierung des Gesetzes wieder anschwillt, sagt Maunganizde: "Höchste Zeit, dass die EU ihre Migrationspolitik einer gründlichen Überprüfung unterzieht." (Johannes Dieterich, 28.11.2023)