Das Umfeld von Gewaltopfern ist zentral, um Gewalt zu bekämpfen, sind sich Expertinnen einig.
Das Umfeld von Gewaltopfern ist zentral, um Gewalt zu bekämpfen, sind sich Expertinnen einig.
IMAGO/ZUMA Wire

Gegen Ende des Jahres steht Österreich vor einer seit einigen Jahren annähernd gleich großen Menge an getöteten Frauen und schwerer Gewalt gegen Frauen. Zwischen 31 und 29 Femizide waren es in den Jahren 2020 bis 2022, heuer sind es bisher 26 Femizide und 41 Mordversuche.

Für das neue Jahr ist es eine düstere Aussicht, dass sich an diesen Zahlen so schnell wohl nichts ändern wird. DER STANDARD hat bei Expertinnen, die seit vielen Jahren im Gewaltschutz arbeiten, nachgefragt: Was würde unmittelbar gegen die Gewalt gegen Frauen helfen? Wo haben wir in Österreich besonderen Nachholbedarf, und: Was kann jede und jeder Einzelne tun?

Ursula Kussyk ist Leiterin der "Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt". Sie sieht es kurzfristig als "bedeutenden Schritt" an, die bestehende kostenlose psychosoziale und juristische Prozessbegleitung bekannter zu machen. Und zwar sowohl für Gewaltopfer als auch für deren soziales Umfeld sowie für Zeug:innen von Gewalt und Sexismus.

Dichtes Gewaltschutznetz

Nachholbedarf sieht Kussyk im Bewusstsein über sexualisierte Gewalt. Die Auswirkungen, das Ausmaß und die Ursachen seien in Österreich noch immer starke Tabuthemen, sagt sie. "Wir müssen als Gesellschaft in aller Offenheit über die Mythen und die Scham bei dieser Form von Gewalt sprechen, auch darüber, dass der Täter den Frauen meist bekannt ist."

Was wir konkret gegen sexualisierte Gewalt tun können? "Wir können mutig versuchen, uns öfter in unterschiedlichen sozialen Kontexten über konsensuale und für alle Beteiligten befriedigende Sexualität, Grenzverletzungen, sexuelle Übergriffe, Geschlechterstereotypen und Sexismus auszutauschen", schlägt Ursula Kussyk vor.

Ähnlich wie Kussyk sieht auch Karin Gölly, Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Burgenland, den wichtigsten Ansatz bei der Strafverfolgung. "Gewaltopfer sollten animiert werden, im Bedrohungsfall die Polizei zu verständigen", sagt sie. Die einzige "Behörde, die bei akuter Gefährdung wirksam Sicherheit schaffen und für Schutz sorgen kann, ist die Polizei", sagt Gölly. Die Beamt:innen können nach einer Beurteilung der Situation ein Betretungs- und Annäherungsverbot für 14 Tage aussprechen, in der Folge kontaktiert das Gewaltschutzzentrum die betroffenen Menschen und bietet Unterstützung an.

Nachholbedarf ortet Gölly in Österreich bei der Unterstützung von jungen Familien in Überforderungssituationen. Auch bei der gewaltpräventiven Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gäbe es noch viel Luft nach oben. Und zu den Aufgaben für alle sagt sie: "Hinschauen, ansprechen, zuhören. Zivilcourage zeigen und Betroffene auf Hilfsangebote hinweisen."

Verstärkte Öffentlichkeit

Wenn es um Gewalt gegen Frauen gehe, gebe es keine Sofortmaßnahme, sagt Michaela Gosch, Geschäftsführerin der Frauenhäuser Steiermark. Keine Maßnahme könne einfach finanziert und umgesetzt werden – und das würde dann Gewalttaten verhindern, sagt Gosch. Es gebe aber ein dichtes Gewaltschutznetz in Österreich, und das müsse mit Kampagnen in allen Regionen sichtbar gemacht werden. Mehr Bewusstsein und Information brauche es auch für die unterschiedlichen Formen der Gewalt. "So erhöhen wir zumindest die Chancen, dass wir schwere Gewalttaten rechtzeitig abfangen können. Alle Angebote helfen uns nichts, wenn betroffene Personen sie nicht in Anspruch nehmen."

Was wir längerfristig tun können? Der wirksamste Gewaltschutz ist Prävention, sagt Gosch, "hier haben wir noch viel zu tun". Das beginne schon bei der Einstellung zu Geschlechterrollen und Gleichstellung. "EU-weit befinden wir uns hier im negativen Spitzenfeld, kaum ein anderes Land hat eine so traditionelle Vorstellung von geschlechtsspezifischer Rollenverteilung wie wir."

Psychische Gesundheit

Darüber hinaus müsste in die Vorsorge für psychische Gesundheit investiert werden. Physische Gesundheit werde vom ersten Tag an gescreent, es werde in Vorsorgeprogramme und Bewusstseinsbildung investiert, sagt Gosch. "Doch wenn es um die psychische Gesundheit geht, dann gibt es nicht nur kein adäquates Angebot, sondern man muss damit rechnen belächelt oder sogar abgewertet zu werden, wenn man sich Unterstützung holt", kritisiert Gosch. Es müsste selbstverständlich werden, sich in Krisensituationen wie zum Beispiel bei Trennungen, Hilfe zu holen. Denn gerade Trennungen seien eine gefährliche Phase, in der oft Gewalt passiert.

Wenn man das Gefühl hat, im eigenen Umfeld passiert womöglich Gewalt, dann sei es wichtig, das anzusprechen, sag Gosch. "Das wird nicht immer zu einer positiven Reaktion führen, aber wir wissen, dass es oft der notwendige erste Schritt zum Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung ist, wenn sie bemerkt wird, wenn man darauf angesprochen wird, wenn man Gewalt dann nicht mehr vor sich selbst verstecken kann."

Paradoxe Interventionen

Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser, unterstreicht besonders die Chancen von breitangelegten Bewusstseinskampagnen, die Handlungsmöglichkeiten für das Umfeld von Gewaltopfern herausarbeiten. Wie das Projekt "Stop – Stadtteile ohne Parntergewalt", das in Österreich vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser in Wien begonnen worden ist und auch koordiniert wird und mittlerweile in den Bundesländern von den dortigen Frauenhäusern, den Gewaltschutzzentren und Frauen- und Mädchenberatungsstellen mitgetragen wird. Die Mitarbeiterinnen dieser Einrichtungen gehen für "Stop" etwa in Parks oder von Tür zu Tür und informieren, was Partnergewalt an Frauen ist und wie sie selbst aktiv werden können. "Wenn die Nachbarschaft hinschaut, dann hat das eine sehr große Signalwirkung", sagt Rösslhumer über diese Form der Aufmerksamkeit für Männergewalt an Frauen.

Die Menschen lernen über "Stop" auch verschiedene Methoden der Zivilcourage in der Nachbarschaft. Zum Beispiel eine paradoxe Intervention, um Gewalt zu unterbrechen: Man hört, dass es in einer Nachbarwohnung laut ist, Möbel umgeworfen werden. Dann könnte man etwa anläuten und nach Mehl oder Zucker fragen. Allein das könne die Gewalt erst einmal stoppen und Betroffene merken, dass das andere mitbekommen – und sie nicht allein sind. Oder man bezieht die Nachbarschaft mit ein und fragt, ob sie auch was gehört hat. Und ob man gemeinsam etwas was machen kann. (Beate Hausbichler, 29.11.2023)