Paul Curtis vor seinem "Legenden"-Mural. Im Ausschnitt zu sehen: Virgil van Dijk, Robbie Fowler und John Barnes.
Paul Curtis

Paul Curtis sollte eigentlich Steine auf Öl testen, heute bemalt er sie. Daran ist Bambi schuld. Als seine Schwester eine Tochter erwartete, bat sie ihn, das Kinderzimmer zu streichen. Es schien ihm plump, das ganze Zimmer in Pink zu hüllen. "Ich hatte nichts zu tun", sagt Curtis, "also malte ich Bambi." Was er nicht ahnte: Es war der Start in seine zweite Karriere.

Aktuell zählt Curtis zu den bekanntesten Straßenkünstlern Liverpools. In seinem gelernten Beruf wurde er plötzlich gefeuert, ein Zufallstreffer bei seinen ersten Kunstwerken machte ihn berühmt. Nun hat er etliche Spieler des FC Liverpool, bei dem der LASK am Donnerstag (21 Uhr/Sky, ServusTV) in der Europa League gastiert, porträtiert und dazu beigetragen, dass ein ganzer Stadtteil einen Aufschwung erlebt — durch seine Wandmalereien, die prominenten Liverpooler "Murals".

Plan B

"Es war nie meine Intention, Maler zu werden", sagt Curtis dem STANDARD. Er ist studierter Geologe, verdiente einst gutes Geld bei einem Ölkonzern. Doch die Branche ist vergänglich, der Erfolg wellenförmig: Auf einen Boom folgte Katerstimmung, 40 Prozent in der Branche war den Job los. Curtis sagt: "Plötzlich war ich überflüssig."

Er suchte einen Job, vielleicht aber auch den Sinn des Lebens, machte eine Weltreise, denn er hatte sich ein wenig angespart, und wollte etwas Neues im Leben: viel Freizeit. Nach der Rückkehr malte er im Zimmer der Nichte in spe, lud ein paar Fotos seiner Arbeit auf Facebook. Sein Umfeld sagte ihm: "Du kannst verdammt gut malen. Mach was draus!"

Curtis machte sich selbstständig, arbeitete als Maler und fühlte sich mit beidem überfordert. Zum Einstieg gestaltete er den Schankraum eines Pubs hier, einen renovierten Kellerraum da. Am Ende des Lohns war noch recht viel Monat übrig.

Bis er sein erstes Kunstwerk im Freien malte. Curtis wollte ein Kultmotiv schaffen, er spielte sich mit dem Fabelwesen Liverbird, ein Markenzeichen der Stadt, das auch der FC Liverpool im Vereinslogo trägt. Auf eine Mauer malte Curtis die Flügel des Liverbirds. Er hatte Glück, die Leute kamen und machten Fotos von sich vor dem Gemälde; im richtigen Winkel geschossen, wachsen einem die Flügel aus dem Rücken, dann wird selbst der größte Lausbub zum Engerl.

Gut fürs Geschäft

Der Stadtteil Anfield, das sollte man wissen, wäre ohne das Stadion des FC Liverpool niemals ein interessantes Viertel geworden. Die Gegend ist typisch für die "working class", sagt Curtis. Vor zehn Jahren noch, erzählt er, fuhren Liverpool-Fans, die aus dem Ausland kamen, mit dem Taxi zum Stadion, schauten ein Match und fuhren mit dem Taxi wieder in die Innenstadt. Heute bleiben sie ein paar Stunden in der Gegend – wegen der Murals. Im Laden kaufen sie ein Häferl, im Pub ein Bier, das treibt die Wirtschaft im Bezirk an.

Seit dem Projekt mit dem Liverbird kann Curtis von der Kunst leben. Inzwischen hat er mehr als 200 Gemälde angefertigt, darunter auch einige der Murals, die dem FC Liverpool gewidmet sind. Seine Kunden sind Fans, die ihr Wohnhaus verzieren wollen. Oder sie arbeiten im Gastgewerbe.

Zuletzt malte Curtis für das Hotel Tia ein Porträt von Bill Shankly an die Fassade. Der Schotte führte den Klub in den Sechziger- und Siebzigerjahren als Trainer zu drei Meistertiteln. Er legte großen Wert auf Teamgeist und gilt unter Fans bis heute als unsterblich. Der Besitzer des Hotels wollte Shanklys Enkelin beeindrucken, weil er gehört hatte, sie sei an einem Investment in das Hotel interessiert. Das Mural hat ihr gefallen, es bringt Aufmerksamkeit, gute Stimmung und vor allem: Geschäft.

Bill Shankly Mural
Bill Shankly gilt als einer der größten Trainer der Vereinsgeschichte. Im Hintergrund ist das nach dem Schotten benannte Tor zu sehen, das heute vor dem Anfield-Stadion steht.
Paul Curtis

Ehre, wem Ehre gebührt

Die meisten Kunden denken nicht an die Form der Wand. Curtis stellt sich Fragen wie: Wo sind Abflussrohre? Stören die Fenster das Bild? Die Freiheitsstatue passt nicht auf eine langgezogene Wand, die Skyline von Liverpool lässt sich nicht auf einen Schornstein malen. Ein Mural von Kenny Dalglish, einem legendären Liverpool-Stürmer und -Trainer, hat Curtis in die Wand eines Wohnhauses eingebettet: Kopf und Beine zwischen den Fenstern, die Oberarme verlieren sich im Fensterglas.

Wandmalerei Kenny Dalglish
Sir Kenny Dalglish, den sie in Liverpool "King Kenny" nennen. Der Schotte bestritt 355 Spiele für Liverpool und erzielte 118 Tore. Er holte sechs Meistertitel als Spieler, drei als Trainer.
Paul Curtis

Curtis wird oft gefragt, ob er nachts auf Vordächer klettert und heimlich drauflos malt. Dann antwortet er: "Nein, das ist illegal. Ich bin nicht Banksy." Für ein Wandgemälde braucht es die Bewilligung des Besitzers.

Wann haben Profis ein Mural verdient? "Du solltest mindestens eine Trophäe gewonnen und 50 Spiele absolviert haben“, findet Curtis. Er ist überrascht, dass etwa der Kolumbianer Luis Diaz nach knapp einem Jahr auf einer Wand verewigt wurde. "Er ist ein starker Spieler", sagt Curtis, "aber er könnte schon nächstes Jahr wieder weg sein. Ist er schon eine Legende? Ich weiß nicht. Wir sollten auch die Legenden der Vergangenheit ehren." Doch Diaz hat einen starken Auftritt auf sozialen Netzwerken, in Kolumbien ist Fußball beliebt, das kann bei der Entscheidung mitgespielt haben.

Konkurrenz, keine Gehässigkeit

Die ÖFB-Teamspielerin Marie Höbinger kickt seit Sommer für Liverpool. Hat sie Chancen auf ein eigenes Mural? "Sie könnte es schaffen, indem sie ein schönes, sehr wichtiges und damit legendäres Tor erzielt", sagt Curtis. Er ist der einzige Künstler, der einem weiblichen Profi ein Wandbild gewidmet hat: Die 22-jährige Missy Bo Kearns spielt seit ihrer Kindheit für Liverpool, mit ihr als Kapitänin gelang dem Team 2022 der Aufstieg in die Women’s Super League.

Paul Curtis bei der Präsentation des Mural von Missy Bo Kearns
Paul Curtis bei der Präsentation des Murals von Missy Bo Kearns – hier mit Missy Bo Kearns.
Paul Curtis

Der FC Liverpool beauftragt auch selbst neue Murals, was die Kunstszene ärgert: Der Klub vergibt den Zuschlag ausschließlich an eine Agentur aus London, die in der Stadt nicht verwurzelt ist. Ist die Szene kompetitiv? "Es gibt keine Gehässigkeit", sagt Curtis, "aber eine gewisse Konkurrenz. Wie im Sport." Auf Social Media verfolgt er, was seine Kollegen machen, persönlich trifft er sie nur selten. "Es ist gesunder Wettbewerb. Wenn ich sehe, was die anderen malen, will ich besser sein als sie." Die Murals kommen bei der Bevölkerung meistens gut an. "Sie müssen Qualität haben. Ein misslungenes Mural schadet allen, fällt auch auf mich zurück."

Würde verspielt, Würde verdient

Auch Steven Gerrard und Jordan Henderson wurden von Curtis verewigt. Beide waren einmal Kapitäne von Liverpool, beide gewannen mit dem Klub die Champions League, beide sind heute in Saudi-Arabien tätig. Sie spielen dem Königshaus in die Karten, helfen beim Sportswashing. Haben die beiden dadurch an Renommee verloren? "Meine Abdrucke des Henderson-Murals kauft niemand mehr", sagt Curtis. Gerrard vergebe man noch eher, weil er länger beim Verein war, sportlich eine größere Rolle spielte. Aber auch bei Gerrard gibt es in Liverpool einen Gesinnungswandel: weil Gerrard dem LFC mehr und mehr Personal abwirbt.

Making Of Anne Williams Mural
Paul Curtis Artwork

Am stolzesten ist Curtis auf ein Wandbild, das gar keinen Profi zeigt. Er hat Anne Williams gemalt, jene Aktivistin, die sich dafür einsetzte, dass die Hillsborough-Katastrophe neu untersucht wurde. Am 15. April 1989 kam es in einem Stadion in Sheffield zur Massenpanik, in deren Folge 97 Menschen ums Leben kamen. Williams' Sohn war unter den Opfern. Jahrelang wurde den Fans die Schuld an dem Desaster zugeschoben, die Neuaufrollung der Vorkommnisse stellte ein Fehlverhalten der Polizei fest. Williams erlebte das Ergebnis der Untersuchung nicht mehr mit, sie verstarb drei Jahre vor dessen Verkündung. "Die Spieler bekommen ohnehin genug Applaus", sagt Curtis. "Ich wollte jemanden von den normalen Leuten würdigen." Auch das ist Liverpool. (Lukas Zahrer, 30.11.2023)