Die Freude über jede freigelassene Hamas-Geisel – und die Tränen der Familien und Freunde, die weiter auf ihre Lieben warten, oder jener, die bereits wissen, dass diese nicht mehr zurückkommen – muss wohl jeder empathische Mensch teilen. Die politische Analyse der Situation, in der sich die israelische Regierung jetzt befindet, fügt eine erkleckliche Portion Bitterkeit zu all den Gefühlen hinzu: Denn parallel zum laufenden Geisel- und Häftlingsaustausch wird das Ausmaß des israelischen Sicherheitsversagens vor dem 7. Oktober immer offensichtlicher.

Israels Premier Benjamin Netanjahu
Steht massiv unter Druck: Israels Premier Benjamin Netanjahu.
EPA/ABIR SULTAN / POOL

Von einem bevorstehenden Überfall der Hamas auf Südisrael wurde nicht etwa nur in dunklen Extremistenkanälen, aufgefangen von arabischen Geheimdiensten, gemunkelt. Er wurde vor den Augen israelischer Sicherheitskräfte geprobt. Soldaten und Soldatinnen, die ihre Beobachtungen nach oben mitteilten, wurden aber nicht gehört. Es ist ein Lehrbuchfall dafür, dass eine politische Meinung – jene, dass der Gazastreifen und die Hamas unter Kontrolle seien – die Sicht auf das verstellt, was man vor Augen hat.

Premier Benjamin Netanjahu wird von vielen Israelis als Politiker persönlich verantwortlich gemacht. Und das ist er ja wohl auch, er hat die Gaza-Politik seit 2009 gestaltet. Die furchtbaren Folgen der Arroganz der Macht werden sein politisches Vermächtnis sein. Dass immer mehr Geiseln nach Hause kommen, nimmt zwar im Moment Druck von ihm. Aber gerade die bisher erfolgreiche Umsetzung des von Katar vermittelten Deals zwischen Israel und der Hamas zeigt auch die Unvereinbarkeit von Netanjahus Kriegszielen auf: alle Geiseln befreien und die Hamas vernichten.

Der Zeitpunkt wird kommen, an dem Netanjahu vor der Entscheidung steht, ob er, obwohl ihm die Hamas noch mehr Geiseln anbietet – die sie dann tatsächlich in ihrer Gewalt hat, vielleicht auch nicht, vielleicht sind sie bei anderen Gruppen oder tot –, diese abschreibt, oder ob aus einer Waffenruhe mit der Hamas ein vorläufiger Waffenstillstand wird.

Man kann das den Menschen im Gazastreifen, die Unfassbares durchmachen, gönnen und dennoch die Problematik auch für sie selbst festhalten: Dieser Krieg wird zwar nicht enden, wie andere Eskalationen zwischen der Hamas und Israel, denn dazu ist im Gazastreifen schon viel zu viel zerstört. Aber es ist möglich, dass die Hamas diesen Krieg überlebt – nicht nur ideologisch, sondern auch organisatorisch-militärisch. (Gudrun Harrer, 29.11.2023)