William Kentridge
William Kentridge schafft Kohlezeichnungen, Animationsfilme sowie Bühnenstücke.
Marco Borggreve / Konzerthaus

Der aus Südafrika stammende Künstler William Kentridge beehrte Österreich schon mehrmals mit seinen Werken. Erst diesen Sommer gab es sein bildstarkes Musiktheater Sibyl bei den Wiener Festwochen zu sehen, 2014 war es Schuberts Winterreise, und 2017 inszenierte er den Wozzeck bei den Salzburger Festspielen. Am Samstag wird nun Kentridges neuer Animationsfilm Oh to Believe in Another World als visuelle Begleitung zur 10. Sinfonie des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch – gespielt von dem Luzerner Sinfonieorchester unter Dirigent Michael Sanderling – im Wiener Konzerthaus präsentiert.

STANDARD: Die internationale Kulturszene ist aktuell zwischen Solidarität mit Israel und Verständnis für das Leid der Palästinenser gespalten. Wie empfinden Sie das?

Kentridge: Es herrscht eine furchtbare Polarisierung in der Kunstwelt. Manche Stimmen werden lauter, die Wut schriller und somit jede Unterhaltung unmöglich. Ich habe kürzlich einen offenen Brief unterschrieben, der einen Waffenstillstand in Gaza fordert. Sofort wurde ich von unterschiedlichen Seiten als selbsthassender Jude sowie als Antisemit angegriffen. Sobald eine Meinung zu deiner Person gefasst wurde, wird sie vehement verteidigt. Und je stärker sie verteidigt wird, desto weniger ist Platz für das Verständnis von Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten in der Welt.

STANDARD: Wie gehen Sie damit um?

Kentridge: Ich bin kein Historiker und kann keine akkurate Behauptung über die komplexen Bezüge zwischen den Kreuzzügen, dem Osmanischen Reich, dem französischen und britischen Kolonialismus im Nahen Osten, der Balfour-Deklaration und der Gründung des Staates Israel oder zu dem, was sich in Palästina in den 1930ern zugetragen hat, aufstellen. Aber ich verfüge über genügend historisches Wissen, um zu wissen, dass jede absolute Behauptung und Interpretation dieser Geschichte mit Sicherheit falsch ist. Man muss alle widersprüchlichen Positionen ertragen, um Gerechtigkeit zu erlangen.

STANDARD: Sie bezeichnen sich selbst nicht als politischen Künstler. Inwiefern beeinflussen aktuelle politische Geschehnisse Ihre Arbeit?

Kentridge: Ich bin kein Journalist. Wenn etwas passiert, muss ich also nicht sofort darauf reagieren. Aber natürlich dringt das, was in der Welt geschieht, auch ins Atelier. Dort wird es fragmentiert, umgebaut und wieder ausgesandt. Aus diesem Rohmaterial können Bilder entstehen. Manchmal passiert das schon nach nur kurzer Zeit, manchmal greift man erst Jahrzehnte später auf Themen zurück.

STANDARD: Momentan wird häufig von Kunstschaffenden verlangt, sich zu weltpolitischen Themen zu positionieren. Trägt man als Künstler eine Verantwortung?

Kentridge: Diese Frage wurde sehr schön vom kolumbianischen Autor Gabriel García Márquez beantwortet. Er sagte, dass die Verantwortung eines Schriftstellers darin liegt, gut zu schreiben. Die Verantwortung eines Künstlers besteht also darin, so gut zu arbeiten, wie er nur kann.

STANDARD: In vielen Ihrer Arbeiten hinterfragen Sie auch Ihre eigene Rolle als Künstler. Was ist Ihr Antrieb? Was möchten Sie mit Ihrem so vielseitigen Werk erreichen?

Kentridge: Ich habe keine Ahnung, was ich erreichen will mit meiner Arbeit. Aber ich bin mir der Bedeutung meiner Tätigkeit als Künstler bewusst, die für mich lebensnotwendig ist. Es handelt sich um eine tägliche Arbeit und ein durchgehendes Interesse, den Sinn der Welt zu erfassen.

New Vision Arts Festival 2023: "Oh, To Believe In Another World" Trailer
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STANDARD: In Ihren Arbeiten beschäftigen Sie sich oft mit der Geschichte Ihres Heimatlandes Südafrika. Ausgehend von Themen wie Apartheid und Kolonialismus üben Sie auch Kritik an Autoritäten. Ihr Leitsatz lautet "Art must defend the uncertain". Welche Bedeutung hat das Ungewisse für Sie?

Kentridge: Das Ungewisse und das Vorläufige sind wichtige Aspekte in meinem Leben und in dem, was ich tue. Meine Animationen handeln von Transformationen. Eine Zeichnung von einer Tasse kann sich in eine Zeichnung von einer zerbrochenen Tasse wandeln. Ich verstehe die Welt also mehr als Prozess denn als Fakt. Sobald man das verstanden hat, können die zerstückelten Fragmente der Tasse auch zu etwas ganz Neuem zusammengesetzt werden. Die Zeichnung, die Animation oder der Film müssen intelligenter sein als der Künstler selbst. Wenn der Poet schon alles weiß, muss das Gedicht gar nicht erst geschrieben werden.

STANDARD: In Ihrem Schaffensprozess steht immer ein bestimmter Impuls am Anfang, den Sie dann zu Papier bringen. Welcher war das bei der nun in Wien zu sehenden Produktion, die vom Luzerner Sinfonieorchester in Auftrag gegeben und dort auch uraufgeführt wurde?

Kentridge: Mein Film Oh to Believe in Another World ist eine spezielle Begleitung zu Schostakowitsch. Ich wurde vom Luzerner Sinfonieorchester zur Zusammenarbeit eingeladen und habe mich für die 10. Sinfonie entschieden. Noch vor der Covid-Pandemie habe ich an einem Kurzfilm basierend auf einem Text des sowjetischen Dichters Wladimir Wladimirowitsch Majakowski gearbeitet, den ich mit Projektionen von kleinen Marionettenfiguren kombiniert habe. Eine ähnliche Technik hatte ich dann im Kopf, als ich für das Projekt in Luzern angefragt wurde. In Oh to Believe in Another World finden Fragmente der Sprache von Majakowski und der Musik von Schostakowitsch zusammen. Für jedes meiner Projekte muss es zwei Impulse geben – einen aus der Außenwelt und einen aus meinem Atelier.

STANDARD: Die 10. Symphonie von Schostakowitsch wurde am 17. Dezember 1953, also neun Monate nach Stalins Tod, uraufgeführt. Eine bedrohliche Figur für den Komponisten. Was hören Sie aus der Symphonie im Bezug auf diese Zeit heraus?

Kentridge: Es war weniger eine Frage, was ich in der Musik höre oder sehe. Es fließen vielmehr Bilder und Gedanken aus vergangenen Projekten ein, die ich seit den 1980ern mache. Ich beschäftige mich schon lange mit russischer Dichtung, mit der Zeit nach der Russischen Revolution sowie mit Komponisten wie Schostakowitsch. Dann war die Frage, wie die Bilder und die Musik zusammenpassen. Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Schostakowitsch ist ein fantastischer Komponist, um einen Film zu machen – er war selbst sehr vertieft in die Filmwelt, hat auch Musik speziell für Filme geschrieben. Und selbst Lieder, die nicht dafür komponiert wurden, scheinen für die Bewegung verfasst worden zu sein.

STANDARD: Ihre Inszenierungen werden in Opern- und Theaterhäusern auf der ganzen Welt gezeigt. Wie beeinflusst die Auseinandersetzung mit der Musik Ihre Kunst?

Kentridge: Was ich über die Jahre gelernt habe, ist, dass manche Zeichnungen erst durch die Narration entstehen. Mein Zugang zum Schreiben von Theaterstücken wurde dadurch komplett verändert. In all meinen Projekten ist Musik zentral. Und die Frage: Wie beeinflusst das, was wir hören, das, was wir sehen und denken?

STANDARD: Ich habe gelesen, dass Sie gar keine Noten lesen können. Ist das ein Hindernis für Sie – oder sogar von Vorteil?

Kentridge: Ich kann einem Notenblatt folgen, aber ich bin kein Musiker, kein Sänger, kein Dirigent und spiele auch kein Instrument. Ich verlasse mich auf sehr gutes Musikpersonal um mich herum, das mit mir zusammenarbeitet. Aber ich erkenne, was die Musik mit den Darstellern auf der Bühne und den so entstehenden Bildern anstellt. Natürlich wäre es einfacher, wenn ich Noten exakt lesen und ihnen im Detail folgen könnte. Aber so ergibt sich auch eine Leerstelle, die einen nicht feststecken lässt in einem exakten Ablauf. (Katharina Rustler, 1.12.2023)