Das Denkmal der Heavenly Hundred Heroes für Personen, die während der Maidan-Proteste getötet wurden, erinnert heute noch an die Aufstände im Jahr 2014.
AFP/ROMAN PILIPEY

Die Essaysammlung Der Preis unserer Freiheit beginnt mit Taras Schewtschenko. Natürlich. Das muss sie. Das weiß niemand besser als Juri Andruchowytsch. "Er ist kein Götze, sondern Wort und Text, lebendig, aufständisch und gefährlich", schreibt Andruchowytsch in dem Text, in dem er die Bedeutung des ukrainischen Literaturklassikers für die Maidan-Proteste erkundet, die vor zehn Jahren in Kiew begannen und nicht nur die Ukraine veränderten. "Und er steht für einen zentralen nationalen Mythos: den Gründungsmythos, der die Ukraine als eigenständiges Land konstituiert hat – das Ukrainische als eigene Sprache, die Mentalität der Ukrainer und ihr Bewusstsein von sich selbst."

Ketten sprengen

Schewtschenko ist der Beginn der modernen Ukraine, die ihre Fremdbestimmung abschütteln will. In seinem Geist erheben sich die Ukrainer, 2004 bei der Orangen Revolution – und dann, ab 2013, gehen sie schließlich auf die Barrikaden, um die Ketten zu sprengen, die postsowjetischen, um sich aus der autoritären russischen Umarmung zu lösen. Andruchowytsch ist bestrebt, das Pathos nicht zu weit zu treiben. Er entschuldigt sich in seinen Texten immer mal wieder, wenn es ihm, der in seiner Literatur das Ironische und Clowneske liebt, zu pathetisch wird.

Aber es ist, wie es ist. Geschichte wird gemacht. Von den Ukrainern und ihrem leidenschaftlichen Drang nach Freiheit und nach Europa, das ihnen lange die Anerkennung, das Dazugehören verweigerte. Darum geht es bei Andruchowytsch seit Beginn seiner literarischen Karriere in den 1990ern: die Existenz des Dazwischen-Seins für die Ukraine zu beenden, den Europäern klarzumachen, dass die Ukraine keine Region Mordors ist, sondern zum Projekt Ostmitteleuropas gehört, historisch, kulturell, mentalitätsgeschichtlich.

Buchcover
Juri Andruchowytsch, "Der Preis unserer Freiheit". Essays. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. € 18,50 / 207 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023.

Recht auf Selbstbestimmung

Dieses Ausloten des Europäischen, das penible Wiederverknüpfen und Zusammenfügen dessen, was vor allem durch den Eisernen Vorhang vernichtet, vergessen und vernachlässigt wurde, ist Andruchowytschs Mission, die seine Sprache befeuert, weil er weiß, dass es sie ist, die nicht nur ins Gehirn der Menschen muss, sondern in die Herzen, um sie für die Ukraine zu gewinnen. Die Essays dieser Sammlung sind zwischen 2014 und der Zeit, als Russland die Ukraine bereits in einen grausamen Krieg hineingezwungen hat, entstanden.

Für alle, die begreifen wollen, ja, begreifen müssen, warum die Ukrainer ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern, ist das Buch essenziell. Es reißt den Leser mit Verve und Wucht in die Innensicht der Ukrainer. Jaja, "bloß Russland nicht erzürnen!" Andruchowytsch wehrt sich gegen so viel Unwissen, Ignoranz und Arroganz. Ein Buch wie ein Aufstand (Ingo Petz, 3.12.2023)